«Die EZB ist bereit, die Zinsen zu senken, sagt ihr Chefökonom», titelt das britische Leitmedium «Financial Times» ganz oben auf ihrer Online-Seite. Eine erste Zinssenkung nimmt die Europäische Zentralbank (EZB) demnach im Juni vor und senkt ihren Hauptrefinanzierungssatz von 4,5 auf 4,25 Prozent. Dabei wird es nicht bleiben.
Wie EZB-Chefökonom Philip Lane im Interview mit der «FT» weiter sagt, dürfte die EZB bis Jahresende noch weiter nach unten gehen. Die Zinsen müssten zwar noch hoch genug bleiben, damit sie dem Wirtschaftswachstum in der Eurozone entgegenwirken - und die Inflation nicht wieder zunimmt.
Aber die EZB müsse etwas weniger dagegenhalten als zuvor; sie könne etwas mehr nachgeben und die Leitzinsen deshalb noch etwas mehr senken bis zum Jahresende. Wie weit, sei abhängig von den kommenden Inflationsdaten und möglichen neuen Krisen.
Doch die EZB muss schon weiter vorausdenken, und so sieht sie sich heute vor der grossen Frage, was sie tun soll, nachdem die Inflation endgültig besiegt ist. 2025 dürfte es gemäss Lane so weit sein, und die EZB muss sich bereits überlegen, auf welchem Niveau ihr Leitzins dann ungefähr liegen soll. Wie tief müssen die Leitzinsen sein, damit die Inflation beim Zielwert von 2 Prozent bleibt?
Welche Antwort die EZB finden wird, ist matchentscheidend für die Schweiz. Denn die Schweizerische Nationalbank (SNB) muss zur EZB normalerweise eine Zinsdifferenz aufrechterhalten: Die SNB muss ihre Leitzinsen deutlich unter jenen der EZB ansetzen. Tut sie das nicht, wird der Franken zu stark und die Schweizer Wirtschaft zu schwach.
Die Schweizer Exportunternehmen wären in der Eurozone zu teuer, kaum mehr konkurrenzfähig und hierzulande zum Sparen und zum Stellenabbauen gezwungen. Zugleich kämen auch Hotels und Cafés den europäischen Gästen schockierend teuer vor, genauso wie Bergbahnen und das Mineralwasser am Kiosk. Es könnte gar zu einer Deflation kommen, also einer negativen Inflation, und die Hypothekarschulden könnten inflationsbereinigt jedes Jahr höher werden.
Das alles könnte die Preisstabilität gefährden, welche die SNB gewährleisten soll. Darum liegen die SNB-Leitzinsen in der Regel ungefähr einen Prozentpunkt tiefer als die EZB-Leitzinsen - selbst dann, wenn die SNB wie von 2015 bis 2022 dafür gar negative Leitzinsen durchsetzen muss. Damals ging die EZB mit ihrem Hauptrefinanzierungssatz auf null hinunter - und die SNB wenig später auf minus 0,75 Prozent.
Wo also werden die EZB-Leitzinsen ungefähr zu liegen kommen? Wie Lane in dem Interview sagt, hat die EZB dazu kürzlich Schätzungen erstellen lassen und veröffentlicht. Mit verschiedenen makroökonomischen Modellen wurde errechnet, wo ungefähr die Obergrenze für die Leitzinsen sein würde und wo in etwa die Untergrenze.
Die Obergrenze liegt bei 2,5 Prozent. Nach Abzug der Inflation von 2 Prozent wären es real noch 0,5 Prozent. Am unteren Rand der Schätzung wäre es ein Leitzins von 1,25 Prozent und nach Abzug der Inflation dann minus 0,75 Prozent. Wer zu diesem Leitzins sein Geld verleihen muss, der hat verloren: Sein oder ihr Geld wird inflationsbereinigt laufend weniger.
Auf die Schweiz übertragen, wären das Leitzinsen zwischen 1,25 und 0,25 Prozent. Hätte die Schweiz dann eine Inflation von 1 Prozent, wären die inflationsbereinigten Leitzinsen wieder nur noch knapp über der Null-Linie oder gar deutlich darunter. Es wäre eine eher triste Welt für alle Sparer und Gläubiger - und eine schöne Welt für Hypothekarschuldner.
Doch sobald die nächste Krise kommt, müssen die Zentralbanken der Wirtschaft wie üblich unter die Arme greifen und dafür ihre Leitzinsen noch weiter hinabsenken. Hierzulande ging es dann wohl deutlich unter die Nullgrenze hinunter. Die Schweiz würde zurückgeworfen in die verkehrte Welt negativer Leitzinsen: Schuldner bekommen Geld dafür, dass sie sich Geld ausleihen. Gläubiger müssen etwas zahlen, um ihr Geld irgendwo anlegen zu können.
Wieder tiefere Zinsen hätten allerdings den willkommenen Vorteil, dass der Bau von Mietwohnungen und Eigenheimen wieder mehr Schwung bekommen könnte. Denn, wie es in einer Studie von Wüest Partner heisst: «Höhere Zinsen dämpfen grundsätzlich die Bautätigkeit.»
Der Wohnbau wird allerdings nicht alleine durch die hohen Zinsen gebremst. Das zeigt sich daran, dass sich schon im Jahr 2018 - also lange vor den Zinserhöhung im Jahr 2022 - ein Abwärtstrend eingestellt. Dieser Trend werde sich 2024 fortsetzen, schreibt die KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich in ihrer Frühjahrsprognose. Erst 2025 werde es eine schwache Erholung geben.
Eines der Hindernisse dürfte sein, dass es für mehr Wohnungsbau auch mehr Verdichtung braucht und sich die Schweiz damit schwer tut.
Eine mögliche Erklärung darauf liefert eine neue Studie der ETH Zürich, geleitet von Professor David Kaufmann und finanziert von der ETH selbst und den SBB. Ganz kurz gesagt, zeigt sich: Verdichtung ist nicht einfach und nicht harmlos; viele Menschen gewinnen, aber es verlieren auch viele Menschen sehr, sehr viel. Der Reihe nach.
Die ETH-Forscher haben untersucht, was dort passiert ist, wo die Schweiz schon etwas Verdichtung geschafft hat: im Umkreis von 500 Metern rund um 49 grosse Bahnhöfe im Kanton Zürich, dem bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz. Rund 1,8 Millionen Datenpunkte zu Personen und Haushalten haben sie ausgewertet: Wegzüge und Zuzüge, Abrisse und Neubauten von Wohnungen.
Es zeigt ist, dass die Vorteile der Verdichtung ungleich verteilt sind. Haushalte mit tiefem Einkommen profitieren zwar, aber deutlich weniger als Haushalte mit höherem Einkommen. Ihr Anteil an den bahnhofsnah gelegenen Wohnungen nimmt ab, weil sie zwar mehr von diesen Wohnungen bekommen, ihr Zugewinn aber kleiner ist, als der Zugewinn von Haushalten mit mittlerem oder hohem Einkommen. Relativ gesehen verlieren sie.
Die grossen Gewinner der Verdichtung sind andere. In der Studie heisst es: «Die Vorteile sind ungleichmässig verteilt und kommen hauptsächlich Haushalten mit mittlerem und hohem Einkommen zugute.» Sie sind es, die nach Verdichtungen überproportional häufig in die Nähe von Bahnhöfen ziehen und in den neu erstellten Wohnungen leben.
Somit haben sie auch besseren Zugang zum schwer subventionierten öffentlichen Verkehr beziehungsweise zum Angebot der SBB. Dieser Zugang ist schon seit langem ungleich verteilt. Mit der Verdichtung rund um die Bahnhöfe herum sind es noch mehr die Haushalte mit mittleren und hohen Einkommen, welche den öffentlichen Verkehr leichter nutzen können. Ärmere Haushalte bleiben zurück.
Besonders hart kann es Haushalte mit tiefem Einkommen treffen, wenn sie schon vor der Verdichtung in Quartieren rund um die Bahnhöfe gelebt haben. Für solche Haushalte steigt die Gefahr, dass ihr Wohnhaus abgerissen wird, sie in der Nähe nichts Neues finden und sie aus ihrem angestammten Quartier wegziehen müssen. Solche forcierten Wegzüge bedeuten meist einen Verlust an Lebensqualität, unter anderem, weil viele Beziehungen zu Nachbarn und Bekannten verloren gehen.
Diese Zerstörung von Wohnraum rund um die Bahnhöfe ist gerade in der Schweiz eine Realität. Es werden keine neuen Bahnhöfe mehr gebaut, wo rundherum dicht gebaut werden könnte. Verdichtung bedeutet darum nicht, zu Bestehendem noch etwas hinzuzufügen; es bedeutet, dass Bestehendes zuerst zerstört werden muss. Und das ist häufig alter, aber günstiger Wohnraum, weil der Mietaufschlag höher ist als bei bereits teurem Wohnraum. Erst wenn das Alte weg ist, entsteht etwas Neues - was dichter neben- oder aufeinander steht.
Gelingt es, bald wieder mehr zu bauen? Wie viel für manchen Haushalt auf dem Spiel steht, zeigte kürzlich eine Studie der Beratungsfirma Wüest Partner. Demnach könnten sich im Kanton Zürich fast 40 Prozent aller Haushalte keine vergleichbare Wohnung mehr leisten, wenn sie zum Auszug gezwungen wären. Sie würden keine Wohnung mehr finden, welche nicht mehr als 30 Prozent ihres Budgets beanspruchen würde und von der Lage und Grösse her ähnlich wäre.
Schweizweit gesehen ist im Kanton Genf am schlimmsten, wo sich 56 Prozent der Haushalte keinen Umzug in eine gleich gute Wohnung leisten könnten. Im Kanton Zug sind es 40 Prozent. Sonst liegt dieser Anteil in der Deutschschweiz immer unter 30 Prozent, doch nur in Appenzell Ausserrhoden sind es weniger als 10 Prozent. Im landesweiten Durchschnitt sind es 28 Prozent aller Haushalte.
Noch weniger «sozial nachhaltig» und «noch prekärer» ist es für Pensionierte und für Alleinerziehende. Um die 60 Prozent solcher Haushalte könnten nach einem Umzug keine vergleichbare Wohnung bezahlen. Bei Familien mit Kindern sind es auch noch knapp 30 Prozent. Deutlich besser ist es nur bei Rentner-Paaren und erwerbstätigen Paaren ohne Kinder. Hier würde es lediglich 10 Prozent der Haushalte treffen.
Nicht nur den europäischen Gästen...