Sind die Gewerkschaften europafeindlich geworden?
Vania Alleva: Nein. Überhaupt nicht. Wir verstehen uns als Teil Europas und sind für eine Zusammenarbeit mit Europa.
Die Gewerkschaften sitzen aber beim Rahmenabkommen im Boot mit der SVP. Ein gewöhnungsbedürftiges Bild.
Das ist ein falsches Bild! Unsere Haltung entspricht nicht jener der SVP. Wir sind nicht europafeindlich, sondern arbeitnehmerfreundlich. Wir sind für einen starken Schutz der Arbeits- und Lohnbedingungen, und zwar für alle Arbeitnehmenden unabhängig ihrer Herkunft. Vor allem sind wir internationalistisch. Das ist historisch bedingt, hängt aber auch damit zusammen, wie wir organisatorisch aufgestellt sind.
Wie meinen Sie das?
Es gibt keine Organisation in der Schweiz, die so internationalistisch ist wie die Unia. Bei uns arbeiten Menschen aus 150 Nationalitäten, darunter sehr viele aus der EU. Das prägt unser Selbstverständnis. Sogar Gewerkschaften in Europa beneiden uns darum.
Seit einiger Zeit hört man aber aus Gewerkschaftskreisen auch kritische Töne zur «neoliberalen» EU.
Wir stehen dann auf die Hinterbeine, wenn es in der EU Kräfte gibt, die eine antisoziale und marktradikale Politik betreiben.
Wie entwickelt sich die EU?
Wegen Corona kam in den letzten Monaten wieder einiges in Bewegung in Bezug auf soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. Hier können wir ansetzen. Wir wollen mit den sozialen Kräften Europas einen Beitrag leisten für ein soziales Europa.
Und wie steht es mit der Personenfreizügigkeit? Wollen die Gewerkschaften sie lieber nicht mehr?
Das stimmt nicht. Wir sind weiterhin für die Personenfreizügigkeit – aber wie schon immer mit einem starken Lohnschutz. Die Bewegungsfreiheit ist für uns eine wichtige Freiheit. Wir haben uns Jahrzehnte lang dafür eingesetzt, dass das Saisonnierstatut abgeschafft wird. Wir haben letztes Jahr an vorderster Front gegen die SVP-Kündigungsinitiative gekämpft. Weil wir überzeugt sind, dass Arbeitnehmende am besten über Aufenthaltssicherheit und Partizipationsmöglichkeiten integriert werden und die nötigen Rechte erhalten.
Beim Lohnschutz scheint im Rahmenabkommen ein Kompromiss möglich. Bieten Sie da Hand?
Beim Lohnschutz gibt es für uns keinen Kompromiss. Weder mit Rahmenabkommen noch ohne. Wir sind uns in dieser Positionierung einig mit den europäischen Gewerkschaften.
Was ist für Sie der Knackpunkt beim Lohnschutz?
Für uns ist es ein No-Go, dass der Lohnschutz überhaupt ein Thema ist im Rahmenabkommen. Er muss explizit ausgenommen werden. Jedes europäische Land muss wirksame Lohnschutzmassnahmen ergreifen können, die der realen Situation vor Ort angepasst sind. Auch die Schweiz. Und weil sich die Arbeitsmarktsituation ständig verändert, müssen wir den Lohnschutz weiterentwickeln können. Das geht aber nur autonom.
Wie sähe es bei einer Immunisierung des Lohnschutzes aus?
Man müsste sehen, was das bedeutet. Ob es nicht einen Pferdefuss gäbe.
Die Gewerkschaften wollen überhaupt nicht auf Diskussionen um den Lohnschutz eintreten?
Nein. Der Lohnschutz muss raus aus dem Rahmenabkommen. Es gibt aber viele andere Punkte, in denen die Schweiz der EU ein Entgegenkommen signalisieren kann.
Woran denken Sie?
An die soziale Säule der EU, also an Richtlinien und soziale Standards im Bereich Arbeitsrecht, Sozialgesetzgebung und Steuerharmonisierung, in denen die Schweiz der EU hinterherhinkt. Diese Rechte bei sozialer Sicherheit und Arbeitnehmern sind für sehr viele Menschen wichtig. Scheitert das Rahmenabkommen, sollte die Schweiz der EU schnell signalisieren, dass sie auf Kooperation und Zusammenarbeit setzt. Auf Angleichung statt auf Partikularinteressen.
Um was geht es bei den Richtlinien?
Diese Rahmengesetze umfassen etwa Vereinbarkeit von Beruf und Familien, Einhaltung von Gesamtarbeitsverträgen, Löhne bei öffentlichen Beschaffungen, Planbarkeit der Arbeit, Schutz bei Massenentlassungen. Hier hat die Schweiz Lücken. Sie kann signalisieren, dass sie einen Beitrag leisten will für ein soziales Europa, indem sie diese Lücken schliesst.
Sie wollen auch eine Steuerharmonisierung. Was schwebt Ihnen vor?
Es wäre ein starkes Signal an die EU, wenn die Schweiz in Steuerfragen nicht mehr einfach Rosinenpickerei betreibt, sondern zur Diskussion um die Steuerharmonisierung beiträgt.
Die Bürgerlichen laufen Sturm gegen eine Harmonisierung beim Arbeits- und Steuerrecht mit der EU.
Man müsste einzelne Bereiche anpassen.
Was genau?
Zum Beispiel das Recht auf einen schriftlichen Arbeitsvertrag, planbare Arbeitszeiten, kostenlose Weiterbildung, Massnahmen gegen Arbeit auf Abruf – um nur ein paar zu nennen. Das müsste man genau studieren.
Betreiben die Gewerkschaften nicht selbst Rosinenpickerei? Beim Lohnschutz weigern sie sich, einen Schritt zu tun. Beim Arbeitsrecht und bei den Steuern wollen sie sich aber der EU angleichen.
Das ist kein Widerspruch. Bei der Arbeit geht es um Rechte, beim Lohnschutz um die Kontrolle dieser Rechte.
Die Steuerharmonisierung ist in der Schweiz ein Tabu. Die Kantone leben vom Steuerwettbewerb.
Das Tabu ist längst nicht mehr haltbar. Sowohl in der EU als auch weltweit steigt der Unmut über die Steuerflucht der globalen Konzerne und der Superreichen. Die Zeit ist reif, dass auch die Schweiz einen Beitrag leistet. Das Steuerparadies bringt uns nicht weiter. Es wäre wichtig, dass die Schweiz proaktiv einen Schritt macht und nicht wartet, bis sie nicht mehr anders kann.
Die FDP will ein Reformpaket. «Falls die Linken das Rahmenabkommen nicht mittragen, braucht die Schweiz ein Fitnessprogramm für mehr Wettbewerbsfähigkeit», schrieben die FDP-Ständeräte Damian Müller und Ruedi Noser.
Das ist ein Angriff auf den Schutz der Löhne und der Arbeitsbedingungen der Menschen in diesem Lande. Ein absurder Angriff. Wenn das Rahmenabkommen scheitert, dann deshalb, weil es falsch aufgesetzt wurde.
Die FDP fordert, die Schweiz müsse zu den konkurrenzfähigsten Steuerstandorten Europas zählen.
Diese Logik bringt uns nicht weiter. Wir können nicht auf Standort-Konkurrenz mit der EU machen. Wir müssen auf Kooperation setzen, etwa auf einen für alle geltenden Mindeststeuersatz für Unternehmen. Auch wenn das Rahmenabkommen scheitert, bleiben wir eng verflochten. Wir müssen schauen, wie wir mit unserer vielfältigen Wirtschaft die Kooperation stärken können.
Die beiden FDP-Ständeräte fordern ein «zeitgemässes Arbeitsrecht».
Das sind bloss schöne Worte für den Abbau von Arbeitnehmerrechten und für Deregulierungen. Dabei haben neoliberale Fitnessprogramme noch nie ein Problem gelöst, sie schaffen bloss immer neue: von der zunehmenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse bis hin zur Kapitulation vor dem Klimanotstand. Neoliberale Rezepte sind nicht zukunftsfähig. Das könnten auch die beiden FDP-Politiker mal merken.
Und Müller und Noser wollen den Rückzug des Staates, dort, wo es ihn nicht brauche.
Das sind keine Lösungen. Wohin uns dieses Rezept führt, hat die Coronakrise gezeigt. Privatisierungen und Deregulierungen etwa im Gesundheitsbereich machen uns verletzlich. Die Leute in der Pflege müssen den ganzen Druck tragen, weil es zu wenige Ressourcen gibt. Das kann nicht das Erfolgsrezept unserer Gesellschaft sein.
Diese Forderungen sind ein Angriff auf die Gewerkschaften. Stellen Sie sich auf härtere Zeiten ein?
Es ist vor allem ein Angriff auf die Beschäftigten in diesem Lande. Diesen Leuten kommt dafür jeder Vorwand recht. Sogar die Coronapandemie dient als Sprungbrett für Attacken auf Arbeitszeit und Gesamtarbeitsverträge.
Haben sie sich gehäuft?
Ja. Wir konnten zum Glück alles abwehren. Zuletzt die 12 Sonntagsverkäufe, welche die Bürgerlichen im Covid-Gesetz zu verankern versuchten. Sie nehmen wirklich jede Gelegenheit wahr.
Wie steht es grundsätzlich um die Sozialpartnerschaft?
Es ist keine Liebe, aber eine Vernunftpartnerschaft. Im Moment konzentriere ich mich aufs Positive, gerade auch im Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen.
Da bildeten Gewerkschaften und Arbeitgeber eine Front.
Die Arbeitgeber haben den Brief zum Lohnschutz an den Bundesrat mitunterschrieben. Da sind wir uns einig: Ein Rahmenabkommen, das den Lohnschutz angreift, ist nicht mehrheitsfähig.
Was steht an bei der Sozialpartnerschaft?
Die Frage, ob wir die Arbeitsbedingungen im 21 Jahrhundert sozialpartnerschaftlich weiterentwickeln können.
Halten Sie das für möglich?
Ich erhoffe es mir echt. Die Arbeitswelt verändert sich rasch, wir müssen dringend Schritte machen, um die Recht der Arbeitnehmenden zu sichern.
Sie selbst haben italienische Eltern. Betraf Sie das Saisonnierstatut?
Persönlich nicht. Ich kam erst zur Welt, als meine Eltern eine Niederlassungsbewilligung hatten.
Aber Sie realisierten die Probleme?
Ja. Das Saisonnierstatut hat unser Familienleben sehr stark geprägt. Wie das Familienleben einer halben Million Italiener in der Schweiz. Ich weiss, was es bedeutet, nicht sicher zu sein, wie lange man bleiben darf. Und was es bedeutet, sich nicht gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren zu können, weil man Angst hat, den Aufenthaltsstatus zu verlieren.
Es ging um die Bewilligung?
Ja, der Anpassungsdruck war enorm. Meine Eltern erlebten es noch, dass es hiess: Wir wollen keine Italiener – und schon gar keine mit Kindern.
Wie prägte Sie das?
Mir war als Kind sehr präsent, dass es aufgrund der Herkunft soziale Unterschiede gibt. Daraus entstand mein Engagement für soziale Gerechtigkeit. Mit der Zeit realisierte ich: Nicht die Herkunft nach Ländern, sondern nach sozialen Schichten liegen den grossen sozialen Unterschieden zugrunde. Deshalb stehen wir Gewerkschaften für die Rechte aller Arbeitnehmenden ein – unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsbewilligungen.
Nun sind Sie Chefin einer Gewerkschaft.
Es ist ein Privileg, für die eigenen Ideale einstehen, sie sogar zum Beruf machen zu können. Mein Engagement ist eine Berufung und mit einer sehr starken Identifikation verbunden.