Hat das Warten ein Ende? Man wagt kaum noch daran zu glauben. Seit zweieinhalb Jahren liegt ein ausgehandelter Entwurf für ein institutionelles Abkommen (InstA) mit der Europäischen Union vor. Und seither steht dieser Rahmenvertrag in der Schweiz unter Beschuss. Der Bundesrat wirkt angesichts der Gegenwehr desorientiert und überfordert.
Nun will sich Bundespräsident Guy Parmelin (SVP) am nächsten Freitag in Brüssel mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen treffen. Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) muss zu Hause bleiben, obwohl er mitreisen wollte. Es ist eine Desavouierung von Cassis, den der Bundesrat offenbar zum Sündenbock für die verfahrene Lage erkoren hat.
Seiner Chefunterhändlerin Livia Leu ist in mehreren Gesprächsrunden kein Durchbruch bei den drei vom Bundesrat definierten Streitpunkten Lohnschutz, staatliche Beihilfen und Unionsbürgerrichtlinie gelungen. Die Differenzen scheinen unüberwindbar, erst recht bei der Souveränitätsfrage mit der Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Nun hat die EU-Kommission die Geduld mit der Schweiz verloren. Mit einem «vertraulichen» Bericht für die 27-Mitgliedstaaten, der vermutlich gezielt an die SRG-Medien durchgereicht wurde, erhöhte sie am Donnerstag den Druck auf den Bundesrat. Er reagiere nicht auf die Vorschläge der Kommission und wolle das Rahmenabkommen «nie in Kraft setzen».
Die kalkulierte Indiskretion ist nicht die feine Art, aber in der Sache trifft die EU den Nagel auf den Kopf. Der Bundesrat scheint es zu bereuen, dass er sich überhaupt auf dieses Abkommen eingelassen hat, das eigentlich den bilateralen Weg absichern soll. Selbst Cassis, der es zu Beginn seiner Amtszeit mit Elan vertreten hatte, wirkt nur noch verzagt.
Gleichzeitig ist das Papier Ausdruck des Ärgers über die Tatsache, dass die Haltung der EU in der Schweiz kaum thematisiert wird. Denn die Debatte über das InstA ist durch eine groteske Asymmetrie geprägt. In Politik und Medien wird bei uns intensiv darüber geredet und gestritten. In der SRF-«Arena» war es vor Corona das Hauptthema.
Jenseits der Grenze interessiert sich niemand dafür. Überhaupt wird die Schweiz in der EU weitgehend ignoriert. Im Brüsseler Machtapparat beschäftigen sich wenige ernsthaft mit uns und unseren Sonderwünschen. Lästermäuler spotten, am Swiss Desk des Auswärtigen Dienstes platziere die EU jene Diplomaten, die sie sonst nirgends brauchen könne.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Debatte in der Schweiz vorwiegend durch Emotionen geprägt ist und sachliche Argumente kaum eine Chance haben. Dabei würde nur schon ein nüchterner Blick auf die drei erwähnten Streitpunkte einiges relativieren:
Und was ist mit dem Souveränitätsverlust durch die «dynamische» Übernahme von EU-Recht und die Rolle des EuGH? Er lässt sich nicht leugnen und ist gleichzeitig der Preis dafür, dass wir im EU-Markt «mitspielen» wollen, ohne Mitglied zu werden. Man muss die Regeln einhalten und kann nicht selber entscheiden, ob und wie man das will.
Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik hat es im «Trilemma» auf den Punkt gebracht: Man kann nicht gleichzeitig maximale Demokratie, Globalisierung und Souveränität haben. In der Schweiz ist die Demokratie sakrosankt, und auf den Wohlstandsgewinn durch die Globalisierung wollen wir kaum verzichten. Bleiben nur Abstriche bei der Souveränität.
Es ist Teil des Elends unserer Europadebatte, dass diese an sich simple und in der Praxis oft genug bestätigte Erkenntnis einfach ignoriert wird. Und man sich lieber an einen vagen «Plan B» klammert, von dem kaum jemand sagen kann, wie ein besseres Ergebnis für die Schweiz aussehen soll. Interessant ist deshalb die Position der SVP in dieser Frage.
Sie lehnt das Rahmenabkommen vehement ab und hat auch die bilateralen Verträge nie gemocht. Dennoch schlägt sie keinen Alternativplan vor. Sie will am Status Quo mit den bisherigen Verträgen festhalten, inklusive der Personenfreizügigkeit, die sie im letzten Herbst mit einer Volksinitiative «abschiessen» wollte.
Man reibt sich die Augen: Ist die SVP wirklich die einzige der vier Bundesratsparteien, die eine realistische Sicht auf dieses Thema hat? Tatsächlich gibt es keine brauchbare Alternative zum Rahmenabkommen. Ein Scheitern wäre kein Befreiungsschlag und auch kein Ausweg. Die Schweiz würde sich vielmehr in die Mausefalle manövrieren.
Sie wäre in diesem Fall erst recht abhängig vom Goodwill der EU. Das gilt auch für eine Modernisierung des Freihandelsabkommens von 1972, die Cassis dem Bundesrat offenbar vorgeschlagen hat. Tatsächlich dürfte die EU in diesem Fall von der Schweiz knallhart die Öffnung bislang geschützter Sektoren verlangen, etwa des Strom- und Agrarmarkts.
Man hört bereits den Aufschrei der Bauern und sieht sie vor dem geistigen Auge mit Traktoren und Mistgabeln auf dem Bundesplatz aufmarschieren. Und eine «Abnabelung» von der EU durch einen Rückfall auf die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) will niemand ernsthaft riskieren. Selbst die Briten konnten dieses Szenario nach dem Brexit vermeiden.
Mit dem Rahmenabkommen hat sich die Schweiz in eine ausweglose Lage manövriert. Sie ist viel abhängiger von der EU als umgekehrt. Brüssel will den Bilateralismus nur mit dem InstA weiterentwickeln, durch die Aufdatierung bisheriger und den Abschluss neuer Abkommen. Der Druck lastet nicht auf der EU, sondern auf der Schweiz.
Einige haben das erkannt. Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt schlägt eine «Probezeit» für das Rahmenabkommen vor. Walter Kielholz, der «Doyen» des Finanzplatzes, sieht nur in der Guillotine-Klausel ein Problem. Darauf könnte die EU tatsächlich verzichten, denn sie sitzt ohnehin am längeren Hebel. Der Bundesrat wäre dann erst recht in der Zwickmühle.
Er wird sich nach dem absehbaren Scheitern der Gespräche mit Ursula von der Leyen kaum zur endgültigen Absage durchringen. Vielmehr dürfte er diese brandheisse Kartoffel auf Eis legen in der Hoffnung, dass sie sich abkühlt und die EU uns irgendwann freundlicher gesinnt sein wird. Damit aber riskiert er die Erosion des bilateralen Wegs.
Der von der SVP favorisierte Status Quo ist faktisch ein Rückschritt. Hätte der Bundesrat Mut und Führungsstärke, dann müsste er dem Volk reinen Wein einschenken: Es stimmt, wir müssen mit dem institutionellen Abkommen dicke Kröten schlucken. Aber es ist die einzige Möglichkeit, damit der bilaterale Weg längerfristig Bestand haben kann.
Damit liesse sich auch eine Volksabstimmung gewinnen, sogar mit Ständemehr. Vermutlich aber wird der Bundesrat sich auf ein Zeitspiel einlassen, bei dem er nichts gewinnen kann. Denn eher wird das Eis schmelzen, als dass die InstA-Kartoffel geniessbarer wird.
Wäre noch irgendwie lustig, wenn uns die SVP genau dort hinführt. Ist aber am Ende wohl die einfachste und vernünftigste Lösung.
Vielleicht wird das eine lehrreiche zeit nach dem nein.
So oder so die svp wird den schwarzen peter weit weg von sich schieben. Wie gehabt.