Die Preise für Erdgas am europäischen Grosshandelsmarkt sind explodiert. Letztmals waren die Preise 2018 so hoch wie aktuell. Laut Schweizer Energieversorgern ist die Situation jetzt aber gravierender als damals. Ein Blackout im Winter in Form von Stromausfällen oder kalten Heizungen droht aber nicht.
Laut hiesigen Gashändlern sind die europäischen Spot-Preise – für Gaslieferungen am nächsten Tag – am Referenzmarkt TTF auf über 70 Euro die Megawattstunde angestiegen. Vor gut einem Jahr in den Monaten Mai und Juni 2020 hatte der Markt Tiefs bei etwa 3 Euro gesehen. Damals drückten die Corona-Lockdowns zusammen mit einem hohen Angebot die Preise. Anfang 2021 waren es dann 20 Euro die Megawattstunde. Seither ging es steil nach oben.
Zuletzt seien in den Monaten Februar und März 2018 derart hohe Preise für Erdgas bezahlt worden wie aktuell, sagt Andy Sommer, Senior Analyst beim Energiekonzern Axpo. «Damals trieb eine aussergewöhnliche Kältewelle die Nachfrage und Preise nach oben.»
Die momentane Situation sei aber nicht mit dem «kurzzeitigen Schock» von 2018 mit Preisen bis zu circa 100 Euro zu vergleichen, heisst es bei Alpiq. Mit den heutigen Gegebenheiten habe Europa «systematisch» wenig Gasreserven für den bevorstehenden Winter angereichert.
Die Pegelstände der Gasspeicheranlagen sind im Vergleich zu den Vorjahren vor allem in Deutschland eher niedrig. Der vergangene Winter war relativ kalt, weshalb die Speicher nach der kalten Jahreszeit nur unterdurchschnittlich stark aufgefüllt werden konnten.
Zudem ist es in den norwegischen Förderfeldern zu langen Wartungsperioden gekommen, und es gibt viele ungeplante Produktionsausfälle am Kohlemarkt. Folglich wird mehr Gas für die Stromproduktion benötigt. Hinzu kommt eine regelrechte Windflaute in Europa in den vergangenen Wochen sowie «Lieferschwierigkeiten» aus Russland. «Ausserdem ist unsicher, wann die Genehmigung für die Inbetriebnahme der technisch fertiggestellten Gaspipeline Nordstream 2 durch die deutschen Behörden erfolgen wird», heisst es bei der Berner BKW.
Gleichzeitig steigt jedoch die Nachfrage angesichts einer Wirtschaftsbelebung in vielen Ländern nach den Corona-Lockdowns; insbesondere Ostasien und dort insbesondere China verbrauchen mehr Gas. Daher wird weniger Flüssigerdgas, sogenanntes LNG (liquefied natural gas), nach Europa verschifft.
Die teure Beschaffung am deutschen und holländischen Gasmarkt mache sich bereits bei den Kosten von Industrieunternehmen – vor allem in Spanien, Italien und Frankreich – bemerkbar, so Alpiq. Einige Kunden würden wegen der hohen Gaspreise bereits ihre Produktion drosseln. Vor allem die chemische Industrie sei betroffen, wo unter anderem – etwa in Deutschland und Grossbritannien – die Produktion von Ammoniak stark reduziert wurde.
Kurzfristig werden sich die Preise nach Ansicht der Experten auch nicht so leicht beruhigen. Es hängt natürlich davon ab, wie kalt der kommende Winter wird. Eine Schlüsselrolle wird vor allem Nordstream 2 spielen, die zweite so genannte Ostseepipeline von Russland nach Deutschland. Eine weitere Entspannung würden zudem bereits geplante neue LNG-Terminals bringen, die mehr flexibles Gas auf den Markt brächten.
Von den hohen Preisen ist die Schweiz stark betroffen: Hierzulande wird kein Erdgas gefördert, weshalb der gesamte Bedarf importiert werden muss. Das Gas stammt zu rund 60 Prozent aus der Förderung in EU-Ländern und in Norwegen. Rund ein Drittel kommt aus Russland und der Rest aus verschiedenen anderen Regionen. Möglich ist die Beschaffung über Verbindungen zu den Speichern in Deutschland, Frankreich und Italien.
Mit Strom- oder Gasausfällen in der Schweiz im kommenden Winter rechnen die Experten allerdings nicht. So wird hierzulande so gut wie kein Strom mit Gas erzeugt, stattdessen über 50 Prozent mit Wasserkraft und gut ein Drittel mit Atomkraft. In Europa könnten zudem andere fossile Brennstoffe als Gas eingesetzt werden – zum Beispiel Kohle in Grossbritannien, heisst es bei der BKW.
«In normalen Wettersituationen sollte es zu keinen Zwischenfällen kommen», sagt auch Sommer von Axpo. In extremen Situationen – wie extremer Kälte über längere Zeit – seien aber durchaus Preisspitzen für Erdgas, Kohle und Strom vorstellbar. Deren Ausmass könne allerdings mit fundamentalen Argumenten nicht vorhergesagt werden. (aeg/sda/awp)
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