Schweiz
Wissen

Viren gegen Superkeime: Zwei Projekte der ETH machen Hoffnung

Viren retten in Genf einen schwer kranken Patienten – 2 Projekte der ETH machen Hoffnung

Viren galten lange als Feinde unserer Gesundheit. Nun haben Schweizer Forscher ausgerechnet mit ihrer Hilfe einen vermeintlich unheilbar kranken Patienten gerettet. Neue Projekte der ETH könnten die Anwendung von sogenannten Phagen in den medizinischen Alltag beschleunigen.
30.07.2023, 17:1830.07.2023, 17:26
Simon Maurer / ch media
Mehr «Schweiz»

Mikrobiologen und Mediziner warnen auf Kongressen seit Jahren davor, dass Antibiotika nicht mehr wirksam sind: Der exzessive Gebrauch führt bei Bakterien zu Resistenzen. So geschehen just im Kanton Genf, wo ein Stamm von Lungenbakterien mehrere bekannte Antibiotika-Ausweichmethoden kombiniert hat, um komplett resistent zu werden.

Bakteriophagen sind Viren, die uns in Zukunft beim Kampf gegen antibiotikaresistente Bakterien helfen sollen.
Bakteriophagen sind Viren, die uns in Zukunft beim Kampf gegen antibiotikaresistente Bakterien helfen sollen.Bild: science photo library/Getty

Das Bakterium hat Molekülpumpen entwickelt, die Antibiotika-Moleküle aus dem Zellinneren herausschleudern und wirkungslos machen. Und es hat gleichzeitig neue Enzyme gebildet, welche Reserve-Antibiotika zerstören können. Opfer dieses aggressiven Bakteriums war ein 41 Jahre alter Mann mit einer chronischer Lungenkrankheit, der 2019 mehr als sieben Monate lang ohne Besserung in einem Genfer Spital hospitalisiert war.

Als sich die Symptome des Mannes verschlechterten, entschlossen sich seine Ärzte für eine experimentelle Therapie mit sogenannten Phagen. Das sind Viren, die ausschliesslich Bakterien befallen und menschliche Zellen nicht infizieren. Ausserhalb von Russland und Georgien sind Phagen als Medikamente nicht zugelassen. Hierzulande verwendete man bisher immer die chemische Keule: Antibiotika. Im Falle des Genfer Patienten gab es aber keine andere Möglichkeit mehr. Und so verabreichte man ihm ein konzentriertes Gemisch mit Phagen zum Inhalieren.

Und siehe da: Nach mehreren Interventionen wurden die Symptome milder. Trotz einiger Rückfälle konnte der Mann im August 2022 aus dem Spital entlassen werden und sogar wieder seiner normalen Arbeit nachgehen, wie die behandelnden Ärzte in einer aktuellen Studie in «Nature Communications» schreiben.

Rechtliche Lage macht Viren als Therapie umstritten

Im Kampf gegen multiresistente Erreger setzen immer mehr Ärztinnen auf die bakterienfressenden Viren. Derzeit ist das aber nur in Fällen möglich, wo sonst alle anderen Therapien versagt haben. Denn Phagentherapie ist rein rechtlich in keinem westlichen Land zugelassen - trotz einigen publizierten Fällen von sensationeller Heilung von vermeintlich todgeweihten Patienten.

Phagen sind hochspezifisch und befallen nur ganz spezifische Wirtszellen.
Phagen sind hochspezifisch und befallen nur ganz spezifische Wirtszellen.Bild: getty

Nun sieht es ganz danach aus, als könnten Phagen zumindest in der Diagnostik offiziell Einzug ins Spital halten. Denn ein Team um Matthew Dunne und Samuel Kirchner hat eine Methode entwickelt, mit der Phagen dazu gebraucht werden, Diagnosen von Harnwegsinfekten schneller zu ermöglichen. Die Zürcher Methode funktioniert mit Urin, die Patienten kommen dabei nicht selbst mit den Phagen in Kontakt.

Beim neuen Diagnoseverfahren werden genetisch veränderte Phagen in den Urin des Patienten gegeben. Ein Phage befällt nur eine einzige Art von Bakterium und sendet dank der genetischen Veränderung dann ein Lichtsignal aus. Wenn die Forscher nun diese Lichtsignale messen, wissen sie, welches Bakterium den Patienten krank macht, und können so in weniger als fünf Stunden die richtige Therapie einleiten. Bisher mussten die Bazillen aus dem Urin aufwendig im Labor gezüchtet werden, was zwischen 18 und 30 Stunden dauerte.

Der Einsatz in Diagnostik wäre ab jetzt möglich

Professor Martin Loessner von der ETH Zürich, der schon lange an Phagen forscht und an der Studie beteiligt war, erklärt:

«Ein Vorteil dieses Diagnoseverfahrens ist, dass es für seine Verwendung keine spezielle Zulassung braucht.»
Martin Loessner
Martin Loessner: Phagenforscher und Professor für die Mikrobiologie von LebensmittelnBild: eth zürich

Denn die Spitäler seien bei der Auswahl ihrer Diagnosemittel frei. Doch laut Loessner ist die Diagnostik mit Phagen vor allem dann sinnvoll, wenn danach auch mit Phagen behandelt wird. Schliesslich lässt sich anhand des Lichtsignals genau ablesen, welcher Phage im vorliegenden Patienten den grössten Behandlungserfolg erzielt.

Die Zürcher Forscher haben neben dem Diagnoseverfahren letzte Woche auch gleich eine weitere Studie veröffentlicht, die einen Meilenstein darstellt. Mithilfe der Genschere Crispr haben sie die Phagen gentechnisch so optimiert, dass sie für die Bakterien noch tödlicher geworden sind. Das ist wichtig, weil die Phagen in früheren Versuchen manchmal nicht alle Bakterien abgetötet haben. Loessner erklärt: «In der Natur gibt es ein Gleichgewicht, die Phagen sind zur Replikation auf Bakterien als Wirte angewiesen, deshalb löschen sie normalerweise nicht die ganze Population aus.» Dieses Problem habe man mit den neuen verbesserten Phagen endlich lösen können.

Laut Matthew Dunne, dem Letztautor der Studie, ist bereits eine Phase-I/II-Studie mit dem Zürcher Spital Balgrist geplant, welche in den kommenden Jahren starten soll. «Damit eine Zulassung gelingt, braucht es nun klinische Tests und gute Daten, welche auch die Gesundheitsbehörden überzeugen», so der Forscher.

Wie bei Covid: Krise könnte Technologie boosten

Bis Phagen als Medikamente zugelassen werden, dürfte es noch eine Weile dauern - obwohl sich die meisten Experten einig sind, dass ein medizinischer Einsatz sinnvoll wäre. Grund dafür ist ein veraltetes Gesetz, das eine Zulassung bis heute sehr schwierig macht. Ein 338 Seiten umfassender Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag kam eben zur Konklusion, dass «eine Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen erforderlich sei», weil es unter den aktuellen Umständen unwahrscheinlich sei, dass sich die Phagentherapie in grösserem Umfang etabliert.

«Es braucht eine Änderung der Zulassungsbedingungen», kommentiert Professor Martin Loessner. Die heutigen Gesetze seien nicht für die Zulassung von biologischen Anwendungen gemacht, sondern nur für chemische. Der Professor hofft, dass in naher Zukunft eines der europäischen Länder vorangeht und Phagen zur Therapie zulässt. Er ist sich sicher, dass dann schnell alle anderen Länder folgen würden.

Auch Matthew Dunne, einer der Autoren der beiden Zürcher Studien, ist überzeugt, dass dies bald Realität wird. «Man hat es bei Covid und der mRNA-Technologie sehr klar gesehen: Manche Technologien sind schon bereit, um eingesetzt zu werden. Die Öffentlichkeit realisiert das aber erst in der Krise, wenn es schon fast zu spät ist.» Das Gleiche könnte mit der Phagen-Technologie passieren, wenn Antibiotikaresistenzen sich so schnell verbreiten, wie das einige Forscher vorhersagen. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Selbstfahrende Autos – das musst du wissen
1 / 11
Selbstfahrende Autos – das musst du wissen
In Europa und den USA wird die Klassifizierung des autonomen Fahrens in fünf Stufen vorgenommen. Ein Überblick ...
quelle: ap/waymo / julia wang
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Yung Hurn zurück an der ETH
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
40 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Fretless Guy
30.07.2023 17:57registriert Juli 2018
"Der Professor hofft, dass in naher Zukunft eines der europäischen Länder vorangeht und Phagen zur Therapie zulässt."

Das könnte doch ausnahmsweise mal die Schweiz sein. Schickt den Verantwortlichen doch mal einen Brief oder einen Fax mit dieser Frage.
703
Melden
Zum Kommentar
avatar
Yoliboli
30.07.2023 18:25registriert September 2021
Es gibt eine interessante Doku über die Phagentherapie. Ich glaube sogar aus Georgien. Ist also nichts Neues oder so, in reichen Ländern mit Antibiotika einfach nicht nötig. Bis jetzt...
421
Melden
Zum Kommentar
avatar
Macca_the_Alpacca
30.07.2023 18:51registriert Oktober 2021
Die Phagen Therapie ist schon seit mehr als 100 Jahren bekannt. Vor allem die Georgier waren hier die ersten, die das routinemässig angewendet haben.
272
Melden
Zum Kommentar
40
    Westschweizer Kinder erhalten später und weniger Taschengeld

    Westschweizer Kinder erhalten später Taschengeld als Deutschschweizer Kinder – und die Teenager dann auch deutlich weniger. Das zeigt eine repräsentative Umfrage im Auftrag von Postfinance.

    Zur Story