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Flüchtlinge spionierten im Weltkrieg für den Schweizer Nachrichtendienst

Die Schweiz setzte im Weltkrieg Flüchtlinge als Spione ein – und liess sie dann im Stich

Sie beschafften im Zweiten Weltkrieg – teils unter Lebensgefahr – Informationen für den Schweizer Nachrichtendienst: Flüchtlinge, die als Agenten eingesetzt wurden. Nach dem Krieg liess man sie fallen.
03.09.2025, 20:0203.09.2025, 20:02
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Es ist ein kaum bekanntes Kapitel der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg – und wohl auch kein Ruhmesblatt: Der Schweizer Nachrichtendienst beschäftigte während des Krieges nach Schätzungen bis zu 2500 Agenten, die für die Schweiz Informationen beschaffen sollten – darunter auch viele Flüchtlinge. Trotz ihres riskanten Einsatzes wurden sie nach dem Krieg im Stich gelassen.

Der Historiker Christian Rossé hat die Geschichte dieser als Agenten rekrutierten Flüchtlinge recherchiert. «Das Interesse an den Flüchtlingen lag darin, dass sie gut informiert waren und Kontakte in ihrem Heimatland hatten», sagte er dem Schweizer Fernsehen SRF.

Flüchtlinge überwinden den Grenzzaun.
Flüchtlinge überwinden im Zweiten Weltkrieg den Schweizer Grenzzaun.Bild: Eidgenössische Zollverwaltung

Spion in Liechtenstein

Einer dieser Flüchtlinge, der vom Schweizer Nachrichtendienst angeworben wurde, war der jüdische Treuhänder Paul Wollenberger. Er war 1933 mit seiner Familie aus Deutschland über Frankreich in die Schweiz geflüchtet, wurde aber 1939 ausgeschafft und fand in Schaan im Fürstentum Liechtenstein Zuflucht. Sein Sohn Werner sollte Jahre später ein bekannter Schweizer Autor und Theatermann werden. In Liechtenstein rekrutierte ihn 1942 der Schweizer Nachrichtendienst, für den er in der Folge die «Volksdeutsche Bewegung» (VDBL) – eine nationalsozialistische Partei – im Fürstentum beobachtete und regelmässig Berichte verfasste.

Paul Wollenberger, Anna Wollenberger
https://juerg-buergi.ch/resources/Aktuell/Faits-divers/Diesseits_der_Grenze.pdf
Paul Wollenberger, Ehefrau Anna.Bild: juerg-buergi.ch

Wollenberger geriet als Jude ins Visier der VDBL. In deren Parteiorgan, «Der Umbruch», hetzte Parteimitglied Martin Hilti – Gründer der gleichnamigen Technologiefirma – im Juni 1942 gegen Wollenberger: «Jud Wollenberger ist ein Parasit und ein Zwietrachtstifter in der Gemeinde.» Im August desselben Jahres erhob die Zeitung Spionagevorwürfe gegen in Liechtenstein ansässige Juden – darunter Wollenberger. Die Behörden des Fürstentums leiteten eine Untersuchung ein.

Die Polizei untersucht die vom "Umbruch" erhobenen Spionagevorwürfe gegen in Liechtenstein ansässige Juden. 
https://e-archiv.li/files/2010_8_v_005_1942_1037_a.pdf
Erste Seite des Polizeiberichts über die im «Umbruch» erhobenen Spionagevorwürfe. Bild: Landesarchiv Liechtenstein

Interniert statt unterstützt

Darauf wollte Wollenberger Ende 1942 mit seiner Familie in die Schweiz flüchten, erhielt dort aber keine Aufenthaltsbewilligung und wurde stattdessen in einem Arbeitslager interniert. Die Familie blieb mittellos in Liechtenstein zurück. Erst Jahre nach Kriegsende wurde Wollenberger aus der Internierungshaft entlassen und durfte dann endlich seine Familie in die Schweiz nachholen.

Das Internierungslager in Büren an der Aare, aufgenommen um 1940.
https://www.query.sta.be.ch/detail.aspx?ID=433320
Internierungslager in Büren an der Aare.Bild: Staatsarchiv des Kantons Bern, StABE N Gribi 2.38

Für Historiker Rossé ist klar, dass auch neutralitätspolitische Gründe eine Rolle dabei spielten, warum die Schweizer Behörden Wollenberger nicht schützten. «Ein Land, das ausspioniert wird, kann sich angegriffen fühlen», sagte er gegenüber SRF. Hätte man Wollenberger unterstützt oder finanziell entschädigt, wäre dies ein Eingeständnis gewesen, dass die Schweiz Agenten im Ausland eingesetzt hatte.

Rekrutierung von Deserteuren

SRF erwähnt einen weiteren Fall: Der Wiener Student Wilhelm Bruckner, der 1938 in die Schweiz geflohen war, spionierte für den Schweizer Nachrichtendienst in Österreich. Bruckner gründete – in Absprache mit alliierten und Schweizer Geheimdiensten – sogar eine Widerstandsorganisation gegen die deutschen Besatzer, den monarchistisch ausgerichteten Wehrverband «Patria».

Die Organisation, die ein unabhängiges Österreich anstrebte, war vornehmlich im Voralberg und im Südtirol aktiv. Im April 1944 erhielt Bruckner vom Schweizer Nachrichtendienst die Erlaubnis, zehn österreichische und Südtiroler Wehrmachtsdeserteure aus den Schweizer Internierungslagern für seine Organisation zu rekrutieren. Diesen stellte der Dienst gefälschte Pässe für den Grenzübertritt aus.

Die Unterstützung der «Patria» war neutralitätspolitisch äusserst heikel. Der Historiker Gerald Steinacher, der sich mit der Geschichte der «Patria» befasst hat, sagt gegenüber SRF: «Aus meiner Sicht ist das die Aufgabe der Neutralität. Man hat sich für eine Seite entschieden und gegen Nazideutschland gestellt.»

Auch für Bruckner endete die Verbandelung mit dem Schweizer Nachrichtendienst tragisch: Er wollte nach dem Krieg in der Schweiz bleiben, wurde aber gewaltsam ausgeschafft und mit einem Einreiseverbot belegt. Er starb in den 1970er-Jahren vergessen in einer Wiener Nervenheilanstalt. (dhr)

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