Mitten im Ersten Weltkrieg beschäftigten sich Diplomaten in der Schweiz, Österreich und dem Vatikan mit der «Römischen Frage» im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Italien und dem Kirchenstaat. Man habe es mit einer Frage zu tun, schrieb 1916 der Geschäftsträger des Heiligen Stuhls in Bern an das Aussenministerium in Österreich, «die zu den kompliziertesten gehört, mit denen sich die Weltpolitik seit geraumer Zeit zu befassen hatte».
Nachdem Italien 1870 den Kirchenstaat erobert und den Vatikan in den Nationalstaat Italien integriert hatte, wurde nach einer Lösung gesucht. Der Papst brauche ein souveränes Staatsgebiet, lautete eine Forderung, denn nur ein wirklicher territorialer Besitz könne dem Heiligen Vater diejenige Freiheit gewährleisten, die er zur Ausübung seines Amtes benötige. Der Papst müsse ein wirklicher Souverän sein und nicht einfach nur das Oberhaupt der Kirche, dem die Staaten lediglich souveräne Ehrenrechte zubilligten.
Unter den Lösungsvorschlägen, die im Vatikan, in Österreich und Deutschland dazu geschmiedet werden, taucht auch das Fürstentum Liechtenstein auf. Zwischen Rom und Wien wird vor allem ein Geheimplan diskutiert, das souveräne Fürstentum dem Heiligen Vater zu schenken, der mit der Schenkung in den Besitz eines souveränen Kirchenstaates kommen könnte.
Hinter dem Geheimplan stand die Überlegung, dass der Papst mit der Übergabe Liechtensteins eine «weltliche Souveränität» erhalte, was Verhandlungen mit der italienischen Regierung erleichtern würde. Treibende Kraft hinter dem Geheimplan war der deutsche Politiker Matthias Erzberger, Mitglied des Reichstags in Berlin und Reichsfinanzminister.
Erzberger zog verschiedene Orte für den Papst in Erwägung – und entscheidet sich für Liechtenstein, damals ein Land mit einer praktisch ausschliesslich katholischen Bevölkerung. Wenn schon für den Heiligen Vater ein kleiner Staat geschaffen werden sollte, so eine Überlegung von Erzberger, sei es naheliegend, einen bestehenden Kleinstaat dafür auszusuchen.
Dass sich die Bestrebungen Erzbergers auf Liechtenstein konzentrierten, hatte möglicherweise mit früheren Plänen zu tun, die nach der Annektierung des Vatikans durch Italien in verschiedenen Medien ausgebreitet worden waren. Eine der 1884 verbreiteten Versionen lautete: Fürst Johann II. von Liechtenstein habe dem Papst sein Fürstentum angetragen, zumindest aber dem Heiligen Vater bei einer Abreise aus Rom angeboten, das Schloss Vaduz als Amtssitz zur Verfügung zu stellen. Der Fürst war zwar Staatsoberhaupt Liechtensteins, hatte zu jener Zeit aber seine Residenz in Wien und stattete seinem Land nur gelegentlich einen Besuch ab.
Im Frühjahr 1916 drängte der Vatikan, Erzberger solle Verhandlungen mit dem Haus Liechtenstein aufnehmen. Als Realpolitiker ging Erzberger nicht davon aus, gleich zu einem Ergebnis zu kommen. Deshalb hatte er mehrere Möglichkeiten ausgedacht: Dem Fürsten von Liechtenstein könnte der österreichische Kaiser in seinem Reich einen Realersatz für das Fürstentum anbieten, Liechtenstein könnte in einen Staat für den Papst und für den Fürsten aufgeteilt werden oder das Fürstentum könnte vergrössert werden – entweder durch die Angliederung eines zusätzlichen Gebietes an die bestehende Landesfläche oder gar durch eine Insel.
Wie Erzberger erwartet hatte, stiess er bei seinen Sondierungen auf Widerstand. Der betagte, tiefgläubige Fürst Johann II. wäre zwar bereit gewesen, das Fürstentum an den Heiligen Vater, Papst Benedikt XV., abzutreten, aber er wollte diese Entscheidung nicht allein fällen. Der designierte Thronfolger, Prinz Franz, erteilte Erzberger jedoch eine Absage. Für den künftigen Regenten Liechtensteins kam eine Abtretung von Land und Souveränität nicht in Frage. Und überdies war er überzeugt, das liechtensteinische Volk würde einer Umwandlung des Landes in einen Kirchenstaat niemals zustimmen.
Erzberger, der am 26. August 1921 einem Attentat nationalistischer Extremisten zum Opfer fiel, musste seinen Plan begraben. Eine Lösung der «Römischen Frage» ergab sich erst mit den zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien abgeschlossenen Lateranverträgen, die 1929 die Vatikanstadt als Staat des Papstes anerkannten.
Nach Abschluss der Lateranverträge blieb es einige Jahre ruhig, bis Liechtenstein und der Papst wieder in die Schlagzeilen gerieten. Das Liechtensteiner Volksblatt schrieb am 13. November 1943, mit Bezug auf einen ausländischen Radiosender, dem Heiligen Vater sei angeraten worden, das Territorium der Vatikanstadt mit dem Fürstentum Liechtenstein als Aufenthaltsort zu vertauschen.
Im Fürstentum war man offensichtlich nicht auf dem neuesten Kenntnisstand, wie sich später herausstellte. Der Deutsche Karl Wolff, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, war am 8. September 1943 von Reichskanzler Adolf Hitler zum «höchsten SS- und Polizeiführer in Italien» ernannt worden. Wie Wolff in späteren Interviews ausführte, wollte Hitler den Vatikan mit deutschen Truppen besetzen und den Papst «nach Norden bringen», also entführen. Entweder nach Deutschland oder besser nach Liechtenstein. Hitlers Grund dafür war die Angst, dass Papst Pius XII. in alliierte Hände fallen oder unter den Einfluss der Alliierten geraten könnte.
Die Deutschen hatten auch einen Plan, wie das Papst-Kidnapping gegenüber der Welt gerechtfertigt werden sollte, wie Karl Wolff später in einem Interview sagte: Wie schon in anderen Fällen hätte man irgendein Dokument entdeckt, dass der Papst zum Sturz von Mussolini beigetragen habe, anschliessend hätte Reichspropaganda-Minister Goebbels eine flammende Rede gehalten und in Rom hätten die Deutschen die «Operation» zu Ende geführt.
Was Wolff als «Operation» bezeichnete, war als äusserst brutales Vorgehen geplant. Wolff wollte 2000 Mann aufbieten, um alle Ausgänge aus dem Vatikan zu blockieren: «Es wäre dann leicht gewesen, die Antifaschisten, die deutschen Deserteure und die Juden, die sich im Vatikan verbargen, aus dem Versteck zu treiben. Die SS hätte nur an diejenigen Essen verteilt, die sich ergeben hätten. Alle anderen hätten früher oder später vor Hunger aufgeben müssen.»
Im Zentrum der Operation wäre jedoch die Entführung von Papst Pius XII. gestanden, zusätzlich die Besetzung des Vatikan-Radiosenders und der Raub der Kunstschätze des Vatikans – immerhin 500'000 Bücher und 60'000 Bilder. Nach eigener Darstellung betrieb Wolff ein Doppelspiel: Einerseits plante er den Sturm auf den Vatikan, andererseits habe er das Umfeld des Papstes gewarnt, dass eine Aktion gegen den Heiligen Vater geplant sei.
Ob diese Darstellung wirklich stimmt, liess sich nie ganz klären. Vielleicht wollte Wolff seine Rolle etwas beschönigen, indem er als «Beschützer» des Papstes in die Geschichte eingehen wollte. Sicher aber ist, wie 2016 bei der Öffnung eines Teils des Vatikan-Archivs bekannt wurde, dass es tatsächlich einen Notfallplan gegeben hat, um den Papst vor der Entführung durch die Deutschen zu schützen.
Über den Plan der Papst-Entführung waren offensichtlich auch die Engländer und die Amerikaner informiert, die dazu rieten, der Papst solle sich in ein sicheres Versteck zurückziehen, bis er durch alliierte Fallschirmjäger befreit werde. Laut einem 2016 veröffentlichen Archivstück war als Versteck der schwer zugängliche Turm der Winde ausgewählt worden, wo früher die Sterne beobachtet und Windstärken gemessen worden waren.
Der irre Plan Hitlers, den Heiligen Vater in das neutrale Liechtenstein zu entführen, gelangte letztlich nicht zur Ausführung. Im Umkreis des Führers hatte sich offenbar die Meinung durchgesetzt, ein Sturm auf den Vatikan mit der Entführung des Papstes werde von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung nicht unterstützt. Zudem gab der Vatikan-Botschafter Ernst Freiherr von Weizsäcker entgegen den Plänen Adolf Hitlers die feste Zusicherung ab, das Deutsche Reich werde die Souveränität des Vatikans respektieren.