«Wenn eine Mumie kein Herz hat, kommt sie nicht in die Ewigkeit», sagt die Ägyptologin Renate Siegmann. Das Herz von Schepenese, der berühmtesten Mumie der Schweiz, wird aktuell noch gesucht. Gefunden worden ist dank neuster Technik des Forschungszentrums Fapab in Sizilien aber ihr Gesicht. Schepenese ist die Mumie im Unesco-Weltkulturerbe, welche die Blicke auf sich zieht trotz der vielen einzigartigen antiken Bücher in der Stiftsbibliothek im Klosterbezirk St.Gallen.
Renate Siegmann hatte ihren ersten Kontakt zu Schepenese im Jahr 1996, als sie angefragt wurde, die beiden Särge der ägyptischen Mumie wissenschaftlich zu bearbeiten. Im kalten Bibliothekssaal und später im Lesesaal habe sie die Inschriften abgeschrieben, um sie zu übersetzen. In Zusammenarbeit mit der ETH Zürich wurde die Holzart der Särge und deren Alter bestimmt. Danach wurde die Mumie zur Universitätsklinik Balgrist in Zürich gefahren, wo man sie in den Computertomografen schob.
Diese CT-Bilder aus der Untersuchung im Balgrist hat ein internationales Team unter der Leitung des Schweizer Ägyptologen Michael E. Habicht, der seit 2021 für das Fapab Forschungszentrum in Avola auf Sizilien tätig ist, nun genutzt. In monatelanger Arbeit haben die Wissenschafter mit forensischen Methoden, den Bildern der Tomografie und morphologischen Daten der Mumie ein Gesicht gegeben.
Für das Projekt wurde der brasilianische 3D-Designer Cícero Moraes gewonnen, der in der Branche für seine Gesichtsrekonstruktionen bekannt ist. Die Gesichtsmuskeln wurden modelliert, ebenso wie die Fettpolster, und die Haut wurde entsprechend der zuvor ermittelten Weichteilstärke an bestimmten anatomischen Punkten hinzugefügt. So entstand das Bild einer schönen jungen Frau mit braunen Augen und leicht hervorstehenden Zähnen und genau nachgebildeten Ohren. Die Augenfarbe verdankt Schepenese allerdings ihrer ägyptischen Abstammung.
Die meisten Informationen über das Leben einer Mumie gebe nicht der balsamierte Körper frei, sondern der Sarg, erklärt die Ägyptologin Siegmann, die 1998 ein viel beachtetes und preisgekröntes Buch über Schepenese geschrieben hat.
Der Innensarg ist sehr schön beschriftet und bemalt, auf dem Aussensarg stehen nur die notwendigsten Angaben. Stilistische Merkmale verraten, dass die Mumie zwischen 600 und 550 vor Christus in anthropomorphe, menschengestaltliche Holzsärge gelegt wurde.
Schepenese : die ägyptische Mumie der Stiftsbibliothek St. Gallen : Müller, Peter
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Herausgefunden hat Siegmann auf den Särgen somit beinahe alles, was man heute über die ägyptische Mumie weiss. Die wohl etwa 30 Jahre junge Frau hiess Shep-n-Isis, was zu Schepenese umgewandelt wurde. Sie trug den Titel einer «Herrin des Hauses», vermutlich verheiratet. Auf dem Sarg steht der Name des Vaters und des Grossvaters. «Wir wissen, dass sie in der Nekropole von Theben-West bestattet werden wollte. Auf dem Sarg ist auch zu lesen, was Schepenese sich alles wünschte für ein Leben in der Ewigkeit: zu essen und zu trinken, Salböle und Leinen», sagt die Ägyptologin.
Ein Spruch aus dem Totenbuch ist eine Art Rechtfertigung vor dem Totengott Osiris, um ins jenseitige Leben eintreten zu dürfen. Auch die Bilder auf dem Sarg haben grosse Aussagekraft. Da ist die Göttin Himmelsgöttin Nut, die sich im Sargdeckel über sie legt, ihr Körper ruht auf dem Symbol des Totengottes Osiris. Der Himmel und die Unterwelt bilden dabei ein Mini-Kosmos, in den die Mumie gebettet ist. In diesem Mini-Kosmos vollzieht sich die tägliche Wiedergeburt. So wie die Sonne jeden Tag wieder aufgeht und in der Unterwelt verschwindet. «Das ist die Hauptaussage auf diesem Sarg», erklärt die Ägyptologin.
Schepenese kam 1820 in die Schweiz. Zur Hochblüte der Ägyptenbegeisterung, die Napoleon begründet hatte, der auf seinem Ägypten-Feldzug eine Heerschar von Wissenschaftern mitgenommen hatte. In dieser Ägyptomanie, in der möglichst viele Schätze aus Ägypten zusammengekauft wurden, gelangten sie nach Paris, Berlin, London oder Turin in die entstehenden ägyptischen Museen. Und auch nach St.Gallen.
Gefunden worden war Shep-n-Isis 1819 in den Tempelanlagen von Deir el-Bahari, dem Totentempel der Königin Hatschepsut am thebanischen Westufer. Gleichzeitig mit ihr kam 1820 auch ihr Vater nach Berlin. «Der Vater war ein Amun-Priester. Die Priesterschaft des Amun hatte damals viel Macht im Staat», sagt Siegmann. Schepenese stammte somit aus einer sehr angesehenen Familie.
Die Ägyptologin Siegmann, Anthropologen, Paläopathologen und andere Wissenschafter lösten in den letzten Jahren weitere Rätsel. Zu reden gab, als in den 1990er-Jahren bei Schepenese ein Pilzbefall entdeckt wurde. Die Mumie wurde ausgewickelt und bestrahlt. Nach der Pensionierung des Anthropologen, der den Pilzbefall untersucht hat, fanden sich in dessen Hinterlassenschaft vier Schachteln mit Leinenbinden, unter ihnen die balsamierten Eingeweide, von denen man bisher keine Kenntnis hatte. Der Chemiker Konstantin Siegmann mit seinem Team untersuchte die Zusammensetzung dieser Mumienpakete, die ursprünglich auf den Beinen der Schepenese gelegen waren, und veröffentlichte die Resultate in einer Publikation 2014. Jetzt wird nur noch nach dem Herzen im Brustraum gesucht.