Es ist einer der alten Träume der Menschheit: Jene zum Laufen zu bringen, die es nicht mehr können. 2018 im CHUV konnten die anwesenden Journalisten, mich eingeschlossen, es kaum fassen: Sebastian Tobler, ein Sportler, der nach einem Sturz zum Tetraplegiker geworden war, lief mithilfe eines Gurtsystems und einer revolutionären Technologie, die die elektrische Verbindung zwischen seinem Gehirn und dem Nervensystem seiner gelähmten Gliedmassen wiederherstellte.
Hinter diesen bedeutenden Fortschritten stehen Grégoire Courtine, Neurowissenschaftler, und Jocelyne Bloch, Neurochirurgin. Ihre Arbeit ist zwischen der Universität Lausanne (UNIL) und der ETH Lausanne (EPFL) aufgeteilt, wo sie auch unterrichten. Gemeinsam leiten sie das Neurorestore-Labor, das mit dem CHUV verbunden ist, wo die Operationen durchgeführt werden. Zudem stehen sie hinter Onward Medical, ihrem eigenen Medtech-Unternehmen, das darauf abzielt, die von ihnen entwickelten Systeme zu patentieren und auf den Markt zu bringen.
Aus diesem Ökosystem entsteht eines der innovativsten wissenschaftlichen Projekte des Jahrhunderts. Seit 2018 schreiten ihre Vorhaben zügig voran. watson hat diesen beiden Wissenschaftlern, die auf der Liste «Time 100 Health» stehen – also zu den 100 Personen gehören, die die Medizin weltweit am meisten beeinflussen – ein paar Fragen gestellt.
Gelähmte wieder zum Laufen zu bringen, ist ein alter Traum der Menschheit. Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass ihr es seid, die das möglich macht?
Grégoire Courtine: Das macht demütig. Unsere Mission ist es, Gelähmte wieder zum Laufen zu bringen. Werden wir das schaffen? Ich weiss es nicht. Und können wir überhaupt sagen, dass unsere Patienten wirklich laufen? Sie treten eher auf der Stelle, könnte man sagen.
Jocelyne Bloch: Sie treten auf der Stelle? Ich bin optimistischer als du, es tut ihnen sehr gut! Die Definition von «wieder laufen» ist sicher weit gefasst. Aber wir geben ihnen die Hoffnung, sich wieder bewegen zu können.
GC: Ein Neurologe wird immer sagen, dass man noch mehr erreichen kann. Und ein Patient wird das als aussergewöhnlich empfinden. An der medizinischen Fakultät wurde uns bis vor Kurzem ein Dogma beigebracht: Wenn eine gelähmte Person nach einigen Monaten die Bewegung nicht wiedererlangte, war es vorbei – sie würde für immer gelähmt bleiben.
Wie funktioniert euer System?
GC: Es heisst «Arc» und basiert auf dem Prinzip der Neurostimulation des Rückenmarks. Es besteht aus einer Reihe von Elektroden, die auf die Haut der Patienten geklebt werden (Arc-Ex), oder aus Implantaten, die zwischen dem Rückenmark und den Wirbeln eingesetzt werden (Arc-Im). Dabei handelt es sich um eine epidurale Sonde, die mit Elektroden bedeckt ist und chirurgisch implantiert wird.
JB: Arc-Ex ist einfacher und weniger invasiv: Es werden Elektroden aufgeklebt, die das Rückenmark während der Rehabilitation stimulieren. Bei Arc-Im werden Elektroden in das Rückenmark implantiert, wodurch der Stimulator ständig verfügbar ist.
GC: Dieser ist effektiver, präziser und immer verfügbar. Dank dieser gezielten Stimulation kann der Patient seine Empfindungen wiedererlangen und Arme, Hände oder Beine wieder bewegen. Unsere Methode ermöglicht es auch, autonome Systeme wie Blutdruck oder Blase zu regulieren, die bei gelähmten Patienten oft Probleme bereiten.
Sie haben auch ein System namens Arc-BCI, das für «Brain-Computer Interface» steht, also eine Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer ...
JB: Das ist die aufgerüstete Version. Ohne dieses System laufen die Patienten auf Computerbefehl.
Dazu wird auf den motorischen Kortex ein runder Kasten gesetzt, der 5 cm gross ist und 64 Elektroden enthält. Er wird elektronischer Knochen genannt, weil er die Schädeldecke ersetzt und etwa 5 mm dick ist.
GC: Es wirkt wie eine «digitale Brücke» zwischen dem Gehirn und dem Teil des Rückenmarks unter der Läsion, der die Bewegungen der Beine oder Arme steuert. Das Ganze wird vor allem durch künstliche Intelligenz optimiert.
JB: Das Besondere an diesem System ist, dass es das Gehirn so wenig wie möglich schädigt, um so viele Informationen wie möglich für den Schrittmacher zu sammeln. Selbst wenn man es unter der Schädeldecke anbringt, gilt es als «nicht-invasiv», da man das Gehirn nicht berührt ... im Gegensatz zu der Technologie, die von Neuralink, der Firma von Elon Musk, entwickelt wurde. Unser System scheint mir stabiler und langfristig lebensfähig zu sein.
Sind die Patienten selbstständig?
GC: Das Arc-Ex-System wurde bei 63 Teilnehmern angewendet, die auch bei ausgeschaltetem System eine Verbesserung der Bewegungen zeigten.
JB: In unserer aktuellen Studie behandeln wir neun Patienten, drei davon mit vollständigen Läsionen, und es gibt deutliche Fortschritte. Alle haben an Lebensqualität gewonnen. Einige können Treppen steigen, alleine auf die Toilette gehen oder Freunde besuchen. Ich würde nicht von vollständiger Autonomie sprechen, aber es ist ein grosser Gewinn.
Können Patienten selbstständig laufen?
GC: Bisher wurde das komplette System nur bei einem Patienten eingesetzt, dem Niederländer Gert-Jan Oskam. Dies erfolgte in mehreren Schritten.
JB: Letzten Monat habe ich bei einer Operation zum ersten Mal das gesamte System auf einmal bei einer Person eingesetzt. Es lief gut und die Patientin erholte sich schnell von der Operation. Die Entschlüsselung der Gedanken und die Programmierung der Rückenmarkstimulation wurden in nur wenigen Tagen vollzogen. Die Patientin trainiert mit täglichen Übungen, um wieder laufen zu können.
Haben Sie auch Patienten mit Lähmungen der oberen Gliedmassen behandelt?
GC: Das ist das Thema einer laufenden Studie. Bisher hatten wir nur einen Probanden. Der häufigste Wunsch von Patienten mit Tetraplegie ist es, ihre oberen Gliedmassen zu benutzen. Im Moment müssen sie sich entscheiden, ob sie ihre Beine oder ihre Hände benutzen, da sie sich beim Gehen mit Hilfe der Hände abstützen müssen.
Das hält einige jedoch nicht davon ab, das System mehrere Stunden am Tag zu nutzen. Einer von ihnen steht bei Arbeitsbesprechungen auf, um das Wort zu ergreifen. Er besuchte im Sommer auch ein Musikfestival und erlebte ein Konzert im Stehen.
Wie kam es dazu, dass Sie diese Technologie entwickelt haben?
GC: Das Prinzip der elektrischen Stimulation des Rückenmarks ist seit 1914 bekannt, es ist also nicht neu. Ich habe während meiner Zeit als Postdoktorand an der University of California (UCLA) Stimulationsexperimente mit Ratten durchgeführt. Aber wenn das Experiment endet, endet auch die Stimulation. Das Rückenmark wird vom Gehirn auf räumliche und zeitliche Weise aktiviert.
Dies leitete die Entwicklung von Implantaten für den Menschen.
Welche neuen technologischen Entwicklungen haben Ihre Forschung vorangetrieben?
GC: Die grosse Besonderheit der letzten Zeit liegt im Bereich der Informatik: Wir müssen die elektrische Information der Nerven in einen Code umwandeln. Man muss die Absichten dekodieren und ein Signal an den Stimulator, die Elektrode, zurücksenden, damit, wenn jemand daran denkt, einen Schritt zu machen, er ihn auch tatsächlich tut. Und das alles geschieht mit einer sehr kurzen Latenzzeit.
Haben Sie weitere Pläne, Krankheiten zu heilen?
JB: Unsere nächsten Projekte sind die Behandlung der Folgen eines Schlaganfalls und die Umgehung der vom Schlaganfall betroffenen Gehirnbereiche. Wir werden das gesamte System auch in Parkinson-Patienten integrieren, deren Mobilität beeinträchtigt ist.
Sie haben bei der FDA, der amerikanischen Arzneimittelbehörde, einen Antrag auf Vermarktung von Arc-Ex gestellt. In ein paar Jahren könnte es Tausende von «Tramplern »geben?
JB: Tausende von Tramplern ... (lacht) Das Ziel war, dass sich die Menschen wieder bewegen können, dass sie das Labor verlassen können und selbstständig sind.
GC: Aber von 0 auf einen funktionierenden Patienten zu kommen, ist vielleicht genauso schwierig wie von 1 auf 1000 zu kommen.
Wie ist das gemeint?
GC: Von 0 auf 1, das ist der wissenschaftliche Aspekt. Von der gelähmten Ratte, die wieder laufen kann, zum gelähmten Menschen, der wieder laufen kann, und das System zu perfektionieren. Aber von 1 auf 1000 Menschen zu kommen, die wieder laufen können, ist genauso kompliziert, wenn nicht sogar noch komplizierter.
Unser System wird zunächst für den Blutdruck vermarktet werden, aber nicht, um selbstständig zu gehen. An dem Tag, an dem es 1000 Gelähmte gibt, die damit laufen können, ...
JB: ...gehen wir hin und machen uns einen Spass.
GC: Eine grosse Party, ja! (Sie lächeln sich an)
Stellen Sie sich vor, dass tausend Ihrer Patienten, wie der erste, stehend ein Konzert besuchen.
GC: Ja, es wäre schön, eine Armee von Cyborgs im Paléo zu haben. Wir nennen unsere Patienten Cyborgs. Die Patienten nehmen es mit Humor, sie sind ziemlich lustig. Einige haben Rückenmarkstimulatoren, Gehirnimplantate...
Sie sind an der Pariser Börse notiert. Wie schwierig ist es, Investoren zu finden, selbst mit einem revolutionären Produkt?
GC: Im Moment sind die Leute nicht hinter Medtech-Projekten her, um zu investieren. Das Gegenteil ist der Fall, auch bei uns: Man muss immer überzeugen. Ausserdem steht hinter unserem Projekt ein ganzer akademischer Bereich. Wir brauchen Beweise für das Konzept.
Sie wurden von Jeff Bezos zu seiner Mars-Konferenz eingeladen. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
GC: Wir haben ihn auf der Mars Conference (Machine learning, robotics, automation and space) getroffen und drei Tage mit ihm verbracht. Er ist ein sehr intelligenter Typ, der sehr gut zuhören kann. Er hat eine Vision für die Menschheit.
JB: Man mag seine Art zu denken, in Bezug auf die Wissenschaft, aber auch in Bezug auf die Zukunft der Menschheit. Und Lähmung ist eines der Probleme der Menschheit.
Wird er in Ihre Arbeit investieren?
GC: Wir sprechen darüber. Er mag das, was wir machen.
Wenn er Ihnen ein Angebot macht, Ihre Arbeit in den USA fortzusetzen, würden Sie dann dorthin gehen?
GC: Nein, wir wollen in der Schweiz bleiben. Uns geht es hier sehr gut. Wir haben etwas Einzigartiges aufgebaut, indem wir sehr talentierte junge Leute zusammengebracht haben, mit denen wir uns bei NeuroRestore engagieren wollen, um unsere Ziele zu erreichen.
JB: Wir haben ziemlich viele Projekte in der Schweiz, z. B. mit dem Zentrum für Querschnittsgelähmte in Notwil im Kanton Luzern.
Der grosse Rivale von Jeff Bezos ist Elon Musk. Ich sehe seinen Namen auf einem Dekorationsschild hinter Ihnen... mit erhobenem Zeigefinger.
GC: Das war nur ein Scherz. Um ehrlich zu sein, wir lieben Elon. Was er macht, ist grossartig. Er ist faszinierend.
Dank Neuralink wird viel über Kortikalimplantate gesprochen, und das tun wir auch. Letztendlich hat er die gleichen Interessen wie Jeff Bezos. Sie machen die gleichen Dinge und sind sehr reich. Ihre Rivalität bringt die breite Öffentlichkeit und die Journalisten zum Reden.
Ist das immer noch eine Art Konkurrent?
GC: Sagen wir mal so: Elon Musk hat nur gesagt, dass er Gelähmte wieder gehen lassen wird.
Haben Sie ihn auch getroffen?
GC: Nein, nur den CEO von Neuralink. Aber eines Tages werden wir uns mit Elon Musk bei einem Glas Wein unterhalten.
Ist das nächste Ziel nach den europäischen Börsen die amerikanische Nasdaq?
GC: Ja, wir könnten sogar mit einer Armee von Cyborgs zwischen den riesigen Bildschirmen des Time Square feiern (lacht). Im Ernst: Heute sind wir nicht bereit, aber morgen? Wir müssen Onward mit ausreichenden Einkommensprognosen ausstatten.
Wir machen das «step by step». Zuerst brauchen wir eine FDA-Zulassung für Arc-Ex - das bereits von Swissmedic genehmigt wurde - und dann für Arc-Im.
FB: In der nächsten Zeit werde ich im Operationssaal beschäftigt sein.
Und schade dass die beiden Wissenschafter ihn so unkritisch bewundern und sich auf ein Glas Wein mit ihm freuen.
Nichtsdestotrotz sind Forschung und Entwicklung der beiden fantastisch!