«So kann es nicht mehr weitergehen. Der Wolf richtete diesen Sommer ein Massaker an. Er ist zum König des Kantons geworden»: So martialisch ist die Sprache von Guy Berseth, so heftig brodelt es im Waadtländer, wenn er über den Wolf spricht. Er präsidiert die Viehzüchtergenossenschaft von Saint-George VD, gelegen im Naturpark Jura. Sie zählt 110 Tiere, die diesen Sommer auf der Alp auf insgesamt 120 Hektaren Weide sömmern.
Oder besser gesagt: zählte. Denn vier Rinder hat sich der Wolf geschnappt. «Er greift von hinten an und beisst an den Oberschenkeln zu», sagt Berseth. Nicht nur in der Nacht, sondern in einem Fall auch am Tag. Die Viehhalter entdeckten ein verletztes Rind um 11 Uhr auf der Weide.
Wie die anderen Opfer war es zwischen einem und zwei Jahren alt. Also in einem Alter, in dem die Tiere 300 bis 500 Kilogramm wiegen. Und sich aufgrund ihrer Grösse selbst verteidigen. Davon zumindest ging der Bund ursprünglich aus. «Die Erfahrungen in den letzten Jahren haben nun allerdings gezeigt, dass Wölfe vermehrt auch grössere Wiederkäuer angreifen», anerkannte der Bundesrat letztes Jahr in seiner Antwort auf einen parlamentarischen Vorstoss.
Zahlen des Bundes zu den vergüteten Nutztieren bestätigen: Bis 2020 kamen Wolfsangriffe auf Rinder praktisch nicht vor, danach stiegen sie an. Im vergangenen Jahr tauchten rund 50 gerissene Rinder in der Statistik auf. Das sind zwar im Vergleich zu den vergüteten Schafen (716) und Ziegen (144) wenig – und erst recht im Vergleich zu den Wildtieren wie Rothirschen und Gämsen, die über 80 Prozent der Beutetiere des Wolfs ausmachen.
Doch da die Kuh ein Nationalsymbol darstellt, lassen die Angriffe auf Rinder beim ohnehin schon emotionalen Thema Wolf die Wogen noch mehr hochgehen. In der Waadt gipfelte der Unmut diesen Sommer in Morddrohungen gegen den kantonalen Umweltdirektor.
Die Waadt ist der am stärksten von Wolfsangriffen auf Rinder betroffene Kanton. Bis Anfang September rissen Wölfe sieben Kälber und über 30 ältere Rinder (älter als 160 Tage) – womit die Zahlen bereits vor dem Ende der Alpsaison das Vorjahres-Niveau erreicht haben. Hauptverantwortlich ist das Rudel am Mont Tendre, das auch in Saint-George aktiv ist. Doch auch andere Rudel im Waadtländer Jura, im französischen Grenzgebiet und neu auch im nahen Neuenburger Jura nehmen Rinder ins Visier – anders als die meisten ihrer Artgenossen in den Alpen.
«Die meisten der 40 Rudel in der Schweiz reissen keine Rinder», sagt David Gerke, Geschäftsführer der Gruppe Wolf Schweiz. So erlegten die Wölfe im Wallis und in Graubünden dieses Jahr nur je zwei Rinder. In St.Gallen datiert der letzte Vorfall von 2022.
Ein Waadtländer Problem also – aber wie lange noch? «Die Situation in der Waadt muss ein Warnschuss für den Rest des Landes sein», sagt Viehzüchter Berseth. Und auch Wolfsbefürworter Gerke sieht aufgrund der erwarteten Ausbreitung des Wolfes auf andere Teile des Jurabogens «erhebliches, neues Konfliktpotenzial», auf das man sich vorbereiten müsse.
Er geht davon aus, dass sich künftig Rudel bis an den Rand des Baselbiets und des Aargaus etablieren. Gerade im Berner Jura, im Kanton Jura und im Solothurner Jura herrschten ähnliche Bedingungen wie im Waadtländer Jura, die eine Spezialisierung auf Rinder begünstigten: Schafe sind weniger verbreitet als in den Alpen. Die Rinder leben auf weitläufigen Weiden mit integrierten Waldstücken. Zudem besteht der Grossteil der Herden aus jungen und somit unerfahrenen Jungrindern.
Ob diese Eigenschaften die Dynamik in der Waadt tatsächlich erklären und welche weiteren Faktoren eine Rolle spielen, untersucht derzeit die Stiftung Kora, die sich im Wildtiermanagement engagiert. Die Resultate liegen wohl 2027 vor. Sie könne deshalb noch nicht sagen, in welchem Ausmass der Jurabogen effektiv prädestinierter für Wolfsangriffe auf Rinder sei als die Alpen, sagt Wildtierbiologin Nina Gerber von Kora. Das Risiko bestehe überall, wo sich Wölfe und frei lebende Rinder den Lebensraum teilen.
In der Waadt lautet die Strategie vorderhand: Abschuss. Alle sieben Tiere des Rudels am Mont Tendre dürfen – dank des grünen Lichts des Bundes – bis zum 31. Januar gejagt werden. Die Lage ist derart ausser Kontrolle geraten, dass auch Wolfsbefürworter David Gerke den Abschuss des Leitrüden M351, der im vergangenen Jahr den Jägern entkam, als «alternativlos» bezeichnet. Nur um umgehend anzufügen:
Beim Schutz von Rindern vor dem Wolf stellen sich jedoch zwei grundlegende Probleme. Erstens: die Finanzierung. Gelder für den Herdenschutz sind in der Schweiz knapp. Bei den Rindern kommt hinzu, dass laut Jagdverordnung nur Tiere unter 14 Tagen als schützenswert gelten. Für ältere Rinder sind Schutzmassnahmen vor dem Wolf weder vorgeschrieben noch finanziert. Es sei denn, Tierhalter stellen im Einzelfall einen Antrag.
«Die Unterstützung von Rinderzüchtern sollte wie bei den Schafzüchtern zur Regel werden», sagt Nationalrätin Clarence Chollet (Grüne/NE). Sie will diese Session einen Vorstoss einreichen, um die Finanzierung von Schutzmassnahmen für über zwei Wochen alte Rinder zu vereinfachen. Beim Bundesamt für Umwelt sieht man jedoch keinen Handlungsbedarf. Zu verlangen, dass alle Rinderhalter ihre Tiere dauerhaft mit Schutzzäunen schützen, werde derzeit als «nicht zumutbar» erachtet.
Womit wir beim zweiten Problem sind: der praktischen Umsetzung des Herdenschutzes. Was bei Schafen funktioniert, tut es bei Rindern nicht zwingend. So sind grossflächige Zäune auf den weitläufigen Weiden des Jura kaum realistisch. Auch sei die Integration von Herdenschutzhunden in Rinderherden anspruchsvoller, anerkennt David Gerke.
Eine Lösung könne sein, kleinflächige, gesicherte Nachtweiden einzurichten. Zudem bringt der Naturschützer die Idee auf, jüngere und ältere Tiere in der Herde besser zu mischen, um die Resilienz zu erhöhen. «Im Ausland werden Herdenschutzhunde oder auch Nachtpferche oft eingesetzt. Was in der Schweiz praktikabel und effizient ist, müssen wir aber erst noch testen», sagt Nina Gerber.
Viehhalter Guy Berseth lehnt die Schutzmassnahmen wegen des Aufwands und der tagsüber festgestellten Angriffe ab. Trotzdem ist für ihn ein Wolfsrudel im Kanton Waadt kein rotes Tuch – sofern diesem «klargemacht wird, was geht und was nicht». Also wenn bei Fehlverhalten schnell mit Abschüssen reagiert wird. Das ermöglicht das Gesetz schon heute. Bereits ein einziges gerissenes Rind reicht, damit ein Rudel reguliert werden darf. Bei Schafen und Ziegen braucht es mindestens acht Opfer. (aargauerzeitung.ch)
Aber es ist schon spannend wie die Tiere hier plötzlich als "Opfer" bezeichnet werden.
Was ist denn mit den 400'000 Rindern, welche jährlich in der Schweiz geschlachtet werden? Muss die Migros diese neu als Opfer-Steak deklarieren?
Und für Herdenschutz muss es andere Lösungen geben, als den Abschuss. Insbesondere wenn Alpwirte öffentlich-rechtlichen Alpengrund nützen.
Ich frage mich, wieso die Grünen hier nicht mit differenzierten Lösungen aufwarten.
Letztlich hat der MENSCH die Natur aus dem Gleichgewicht gebracht. Nicht andersrum…