Das Gericht wertete die Tat als eventualvorsätzliche Tötung mit Notwehrexzess. Der Mann hatte sich von der Frau bedroht gefühlt, weil sie im Streit angekündigt hatte, ihn zu schlagen. Er stiess sie mit grosser Wucht von sich.
Strafmindernd wirkte sich unter anderem aus, dass der Mann stark alkoholisiert war und unter Drogeneinfluss stand. Damit sei die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten eingeschränkt gewesen, sagte der Richter am Mittwochabend bei der Urteilseröffnung.
Er sagte jedoch auch zum Beschuldigten: «Es ist unerträglich anzusehen, wie Sie mit vollem Körpereinsatz diese Frau gegen den Zug schmeissen». Der ganze Tathergang war von den Videokameras im Hauptbahnhof Zürich aufgezeichnet worden.
Das Gericht ordnete an, dass der Beschuldigte neben den Verfahrenskosten und den Kosten für die Anwältin der Geschädigten ein Schmerzensgeld von 120'000 Franken zahlen muss.
Die Staatsanwältin hatte eine Freiheitsstrafe von acht Jahren gefordert für versuchte Tötung. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert weil der Beschuldigte zur Tatzeit nicht zurechnungsfähig gewesen sei; oder alternativ auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren.
Bei der Tat handelte es sich laut dem Verteidiger um Notwehr. Die Geschädigte habe seinen Mandanten angegriffen: «Hätte er stehenbleiben und sich schlagen lassen sollen?»
Ohnehin sei sein Mandant nicht zurechnungsfähig gewesen. Zur Tatzeit habe er rund 2,6 Promille Alkohol im Blut gehabt und sei unter dem Einfluss von zwei bis drei Linien Kokain sowie Cannabis gestanden. Den Zug habe er nicht wahrgenommen.
Der Deutsche war zuvor noch nicht straffällig geworden, arbeitet als Verkäufer bei einem Grossverteiler und hat Aussicht auf eine Führungsposition. Er möchte ausserdem seine Verlobte heiraten.
An einem Sonntagmorgen im Dezember 2015 um fünf Uhr früh hatte der Mann eine Frau auf dem Perron zu Gleis 43 am Zürcher Hauptbahnhof angetroffen. Es entstand ein Wortgefecht zwischen ihm und ihr.
Der Beschuldigte sagte, es sei ein nichtiger Streit gewesen. «Vielleicht war der Anlass, dass wir beide Deutsche sind», sagt er vor Gericht. Er und die Frau hätten sich gegenseitig heruntergemacht. An den Inhalt erinnere er sich nicht mehr.
Der Beschuldigte versicherte wiederholt, er habe keinen Streit gesucht. Auch habe er noch nie mit Gewaltdelikten zu tun gehabt. Er habe die Frau später weggestossen, weil er Angst und Panik gespürt habe. In ihrem Gesicht habe er gesehen, dass sie ihn schlagen wollte.
Das Gericht konfrontierte ihn mit drei Ausschnitten aus den Aufzeichnungen der Überwachungskamera. Darauf war zu sehen, wie der Angeklagte in Richtung der Frau gestikulierte, wie er zweimal an ihr vorbei ging und wie der Zug ein- und wieder anfuhr.
Zudem war zu sehen, wie die Geschädigte schliesslich auf ihn zukam, sich nahe vor ihn stellte und er sie dann mit Wucht von sich weg stiess. Sie stürzte auf die abfahrende S-Bahn zu und verschwand in der Lücke zwischen Perronkante und Zug.
In der Folge wurde sie vom Zug mitgeschleift, geriet bald unter den Waggon und wurde überrollt. Sie kletterte später stark blutend aus eigener Kraft auf das Perron zurück. Dort versorgten sie Ersthelfer, bevor sie ins Spital gebracht wurde.
Die Anwältin der Geschädigten führte aus, die Frau sei auf ihn zugegangen, um ihm zu sagen, dass er sie in Ruhe lassen solle. Die Geschädigte habe ihn nicht geschlagen. Die junge Frau sei seit dem Unfall arbeitsunfähig, in psychologischer Behandlung und lerne aktuell, mit der Unterarmprothese alltägliche Handgriffe auszuführen. (sda)