In der Schweiz tobt der Kampf um den Notfalldienst. Seit Jahrzehnten rücken Hausärzte aus, wenn das Fieber mitten in der Nacht immer höher steigt. Doch das System ist infrage gestellt: Es gibt jedes Jahr weniger Hausärzte. Kantone und Gemeinden ringen deshalb mit den Ärzteverbänden darum, wer den Notfalldienst in Zukunft bezahlt.
Die Lieblingslösung vieler Ärzteverbände sind staatlich finanzierte Telefonzentralen: Die Schwere des Falls wird kurz beurteilt, dann wird der Patient falls nötig einem Arzt zugeteilt. Die kantonalen Ärzteverbände – Ärztegesellschaften genannt – wollen diese Telefonzentralen meist selber betreiben. Es geht um viel Geld und darum, die Fäden in der Hand zu behalten.
Dass es ordentlich schiefgehen kann, wenn Verbandsfunktionäre plötzlich zu Geschäftsleuten werden, zeigt das Beispiel aus dem Kanton Zürich. Für 36.5 Millionen Franken sollte die Zürcher Ärztegesellschaft eine solche Telefonzentrale für fünf Jahre betreiben.
Doch ein gutes Jahr nach Betriebsstart ist schon Feuer im Dach. Die Finanzkommission des Kantonsrates fordert eine Neuausschreibung, also die Kündigung des Vertrages. Ein Bericht der Finanzkontrolle kommt zum Schluss, dass der Kanton deutlich zu viel für die Telefonzentrale bezahlt. Die Vergabe ohne Ausschreibung sei zudem rechtlich fragwürdig gewesen und das Controlling des Kantons ungenügend.
Der Bericht der Finanzkontrolleure und ch-media-Recherchen zeigen überhöhte Managergehälter, exorbitante Forderungen, einen schwer rechtfertigbaren 550'000-Franken-Gewinn und Verstrickungen mit einer Privatfirma, die fast 7 Millionen Franken aus dem Staatsauftrag erhält.
Die Geschichte beginnt 2014: Die Zürcher Ärzte organisieren den Notfalldienst damals noch selber, ohne die Kantonsmillionen. Die Stadt Zürich und elf weitere Gemeinden finanzieren eine Telefonzentrale zu grossen Teilen, die pro Einwohner halb so teuer ist wie die heutige Lösung. Andere Gemeinden haben Verträge mit den SOS-Ärzten, eine Firma mit angestellten Medizinern, die sich auf Hausbesuche spezialisiert hat.
Diese SOS-Ärzte und die Ärztegesellschaft unterzeichnen damals ein Memorandum und schicken sich an, mit politischem Druck das System zu verändern. Die Ärztegesellschaft gründet dafür eine Firma und stellt den Geschäftsführer der SOS-Ärzte als Projektleiter ein.
Josef Widler, Präsident der Ärztegesellschaft und CVP-Kantonsrat, beginnt derweil zu lobbyieren. Er will von den Gemeinden 10 Franken pro Einwohner und Jahr für den Notfalldienst – am Schluss wird er Fr. 4.20 erhalten. Den Betrag, den die Finanzkontrolle heute als «deutlich überhöht» bezeichnet.
Derweil kündigen die SOS-Ärzte alle ihre Verträge mit den Gemeinden. Gemeindevertreter sprechen hilflos von «Erpressung», die Versorgung ist gefährdet: Der Druck wirkt.
Die Ärztegesellschaft lässt sich den Aufbau ihrer Telefonzentrale vom Kanton finanzieren. Widler will dafür 11 Millionen Franken – als nachvollziehbar betrachtet eine Prüfungsfirma lediglich die Hälfte. Am Ende reichen 3.6 Millionen Franken.
In der ursprünglichen Forderung waren zum Beispiel 300'000 Franken enthalten für «Consulting», also Beratung, durch die SOS-Ärzte, obwohl deren Geschäftsführer ohnehin als Projektleiter für die Firma der Ärztegesellschaft arbeitet.
Zudem will die Ärztegesellschaft von der Privatfirma SOS-Ärzte noch ein Computerprogramm für fast 2 Millionen Franken auf Kantonskosten kaufen. Eine Eigenentwicklung kostet später nur 325'000 Franken. Von den Aufbaukosten, die der Kanton schliesslich bezahlt, gehen trotzdem rund 2.2 Millionen an die SOS-Ärzte.
Diese Firma ist heute noch stark involviert: Zwischen der Telefonzentrale der Ärztegesellschaft und den SOS-Ärzten wurden insgesamt neun Verträge abgeschlossen. Die SOS-Ärzte erhalten für mehrere Dienstleistungen pro Jahr 0.9 Millionen Franken, indirekt aus Steuermitteln.
Laut Auskünften vom Herbst dürfen sie zudem in sieben von zwölf Bezirken des Kantons exklusiv die Hausbesuche machen. Gleichzeitig bestehen grosse personelle Überschneidungen. So ist der ärztliche Leiter der Telefonzentrale und der SOS-Ärzte dieselbe Person.
Nachdem die «Schweiz am Wochenende» letzten Herbst diese Fakten publizierte, beauftragte die Finanzkommission die Finanzkontrolle, besagten Bericht zu erstellen. Nun stellt sich heraus: Die aus Steuergeld finanzierte Telefonzentrale machte im ersten Jahr einen Gewinn von 550'000 Franken. Das war nicht vorgesehen.
Widler, Verwaltungsratspräsident der Telefonzentrale, sagte in der «NZZ», man habe den Gewinn gemeldet und sei bereit, ihn zurückzuzahlen. Ein Widerspruch, denn in einer E-Mail vom letzten August an diese Zeitung schrieb Widler, das Unternehmen müsse Gewinn erarbeiten, um investieren zu können. Laut Kanton sollen Gewinne im Ausmass von 2018 in Zukunft nicht mehr möglich sein.
Der nächste Hammer für die Ärztegesellschaft folgt erst noch: Der Kanton wird die Beiträge an die Telefonzentrale wohl kürzen, weil die Geschäftsleitung und die Verwaltungsräte zu viel Geld beziehen. Der Kanton habe die Vergütungsregeln mit anderen Unternehmen verglichen und ziehe deshalb Kürzungen in Betracht, bestätigt ein Sprecher auf Anfrage. Sie würden mit dem Gewinn verrechnet.
Josef Widler reagierte nicht auf fünf Anfragen des Reporters. In einer Medienmitteilung wies die Ärztegesellschaft Kritik von sich und warf den Gemeinden vor, zu lange nichts unternommen zu haben. (aargauerzeitung.ch)
Nachtrag, 15. April, 11.00 Uhr: Nach der Publikation des Artikels hat Josef Widler auf die Anfrage reagiert – er sei abwesend gewesen. Widler möchte die Fragen nicht beantworten: «Sie verstehen sicher, dass ich aus diesem Grund (der künftigen Ausschreibung der Telefonzentrale, Anmerkung der Redaktion) keine Geschäftsgeheimnisse preisgeben werde, um die Ärztegesellschaft nicht gegenüber anderen Anbietern in Zukunft zu benachteiligen.»
Übrigens Hinweis für Herr W., Kommunikationsverweigerung ist immer suspekt.