In ihrem schwarzen langen Kleid schreitet Lisa (Name von der Redaktion zum Schutz der Interviewten geändert) über das Trottoir entlang der Langstrasse in Zürich. Die Ausgangsmeile der Stadt schlummert an diesem sonnigen Nachmittag noch etwas, bevor der Trubel am Abend wieder losgeht. Lisa steuert auf ein Gebäude mit grünen Fensterläden zu.
«Dort habe ich gewohnt», sagt die 50-Jährige mit Hühnerhaut auf den Armen. Für Lisa war die Langstrasse kein Zuhause, sondern die Hölle. «Es war der Horror, was ich als Prostituierte hier 20 Jahre lang habe erdulden müssen.» Noch heute bringe sie die Bilder nicht aus ihrem Kopf. Es mache sie traurig, an diesen Ort zurückzukehren, und gleichzeitig fühle es sich wie ein Sieg an. Lisa sagt sichtlich gerührt: «Ich bin eine Überlebende.»
20 Jahre lang war der Strich an der Langstrasse Ihr Alltag. Warum haben Sie das so lange ausgehalten?
Lisa: Ich war alleine und hatte kein soziales Umfeld, das mich hätte auffangen können. Zudem sprach ich nicht gut Deutsch und hatte keine Ahnung, wie die Rechtslage ist und welche Behörden es gibt, die mir hätten helfen können. Ich hatte nichts, nur meine Arbeit als Prostituierte und die teure Miete, die ich wöchentlich bezahlen musste. Ich war abhängig von den Tätern und habe in gewisser Weise ähnlich wie beim Stockholm-Syndrom mit ihnen sympathisiert, um meine Situation erträglicher zu machen. Die Langstrasse war der einzige Ort, den ich in der Schweiz kannte. Ein Ausweg bot sich mir deshalb nicht. Ich hatte zwar Kontakt mit Peter und Dorothée Widmer vom Verein Heartwings, die mir mit ihrem Ausstiegsprogramm sogar eine Ausbildung zur Fachfrau Hauswirtschaft ermöglichten. Doch ich war in den Ketten dieses kriminellen Systems gefangen und brauchte zwei Anläufe, um mich zu lösen.
Sie sprechen von einem kriminellen System. Sind Sie nicht freiwillig Prostituierte geworden?
Nein, ich kenne keine Prostituierte, die in Zürich freiwillig anschafft. Ich habe das nicht gewollt, ich hatte andere Träume und Pläne für mein Leben. Ich wollte heiraten und fünf Kinder haben.
Wie kam es dazu, dass Sie im Rotlichtmilieu gelandet sind?
Ich muss etwas ausholen. Geboren und aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf in Südamerika. Ich hatte eine behütete Kindheit und eine liebevolle Familie. Ich studierte Sport und später zog ich mit einer Freundin in die Stadt, um mich dort zur Schauspielerin auszubilden. Ich hatte Statistenrollen im Fernsehen und lebte ein bescheidenes Leben. Eine Kollegin, die in Spanien arbeitete und zurückkehrte, erzählte mir, dass man dort in drei Monaten 7000 Dollar verdienen könnte. Das war zu dieser Zeit sehr, sehr viel Geld. Ich zeigte mich interessiert. Einen Monat später war ich schon in Europa.
Dass Sie Ihren Körper verkaufen müssten, wurde Ihnen aber nicht gesagt?
Natürlich nicht. Ich war naiv und unschuldig, nie im Leben wäre mir so etwas in den Sinn gekommen. Ich ging davon aus, dass ich dort schauspielern oder einen normalen Job ausüben kann. Doch dem war nicht so. In Spanien musste ich in Bars und Cabarets tanzen und lebte zusammen mit vielen anderen Mädchen in einem Haus. Wir wurden kontrolliert, eingesperrt und nachts in Clubs geschickt, um dort anzuschaffen. Pro Nacht musste ich mindestens zehn Freier bedienen. Das ganze Geld blieb im Club, wir sahen keinen Rappen. Es war schrecklich.
Und wie sind Sie schliesslich von Spanien in die Schweiz gekommen?
Es gab die Möglichkeit, in die Schweiz zu fliehen. Ich bin abgehauen, dem Rotlichtmilieu aber nicht entkommen. Denn ich endete in Zürich an der Langstrasse. Das war Ende der 1990er-Jahre, als in der Stadt noch öffentlich Drogen konsumiert wurden. Die Drogenabhängigen beim Fixen zu sehen, hat mich schockiert. Ich habe immer dicke, geschlossene Schuhe angezogen, aus Angst, auf eine Nadel zu stehen. Angst hatte ich auch vor der Polizei, weil ich wusste, dass ich illegal im Land war.
Wie sah Ihr Leben als Prostituierte aus?
Ich lebte in einem schäbigen kleinen Zimmer, für das der Hausbesitzer pro Woche 1000 Franken verlangte. Er war es auch, der mich und die anderen Frauen dazu zwang, auf der Strasse anschaffen zu gehen, damit Geld reinkommt, um die Miete zu bezahlen. Das kriminelle System im Rotlichtmilieu ist gut organisiert. Vermieter, Clubbesitzer, Schlepper, Zuhälter, Drogenhändler und Mädchenvermittler aus den jeweiligen Ländern wie Nigeria, Rumänien, Thailand oder der Dominikanischen Republik arbeiten alle zusammen. Und so bewegte ich mich in einem Teufelskreis. Ich musste anschaffen, um die Miete zu bezahlen. Und wenn ich nicht wollte, wurde mir gedroht und ich wurde bestraft. Andere Prostituierte wurden etwa im Intimbereich oder im Gesicht verätzt, wenn sie nicht gehorchten. Weil ich die Situation bald nicht mehr ertrug, begann ich, Kokain zu nehmen, um mein Elend zu betäuben. Viele Frauen, die ich kannte, wurden verrückt und haben sich das Leben genommen. Eine ist vor meinen Augen aus dem Fenster gesprungen. Diese Bilder kriege ich nicht mehr aus dem Kopf. Keine Frau, egal, wie bösartig und schlecht sie ist, hat ein solches Leben verdient.
Nach einer Weile haben Sie einen Mann kennengelernt und sich in ihn verliebt. Kam dann die Wende wie bei «Pretty Woman»?
Nein, es wurde alles noch schlimmer. Ja, er war hübsch und behandelte mich zunächst gut, rief mich jeden Tag an und besuchte mich. Zudem gab er mir Geld, damit ich mich nicht mehr prostituieren musste. Doch das tat er nur, um mich für sich zu gewinnen, um mich danach zu quälen und zu manipulieren. Er nahm mir meine Freiheit und verlangte von mir, dass ich ihm diene und für ihn anschaffen gehe, um seine Drogensucht zu finanzieren. Zudem musste ich weitere Frauen für seine perversen sexuellen Vorlieben auftreiben. Er hat mich mehr und mehr in dieses Labyrinth hineingezogen und meine Lebensenergie ausgesaugt. Ich lebte täglich in einem Stresszustand. Seine Absicht war es, mich zu vernichten. Immer wieder sagte er mir, dass er mich nicht töten müsste, da ich mich selber umbringen würde. Mit der Zeit habe ich gelernt, mit ihm auszukommen, und ganz langsam begann ich, mich innerlich von ihm zu lösen und meine Flucht zu planen.
Und dann rückte der Verein Heartwings wieder in den Fokus?
Am Tag meiner Befreiung, dem 23. Dezember 2020, traf ich auf Peter und Dorothée Widmer, sie fuhren mit dem Auto um die Ecke, als ich die Langstrasse verliess. Das war für mich ein Zeichen Gottes. Ich lief in ihre helfenden Hände. Sie begleiteten mich zur Polizei und auf die Ämter. Sie besorgten mir eine sichere Unterkunft, wo mich dieser Psychopath nicht finden konnte. Zuerst lebte ich in einem Hotel und danach fanden sie eine Wohnung für mich. Sie halfen mir bei der Stellenbewerbung. Und noch heute sind sie wie Geschwister für mich, wenn ich die Steuererklärung ausfüllen muss oder irgendwo anstehe, sind sie für mich da. Zudem erzähle ich nun auch meine Geschichte, wenn ihr Verein Heartwings Schulungen und Referate veranstaltet. Es ist mir wichtig, dass die Öffentlichkeit hinter die Kulissen der Langstrasse blickt. Ich bin nur eine von vielen, denen es so ergangen ist.
Wie konnten Sie dieses Elend all die Jahre ertragen? Was hat Sie am Leben gehalten?
Mein Glaube zu Gott hat mir Kraft gegeben und auch die Liebe, die ich von meiner Familie als Kind und Jugendliche erhalten habe, liess mich weitermachen. Ich hätte es meiner Mutter nicht antun können, mir das Leben zu nehmen.
Wusste Ihre Familie in Südamerika von Ihrer Misere?
Ich habe ihnen nie erzählt, dass ich mich prostituiere. Aber ich denke, dass sie es geahnt haben.
Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Ich bin für eine Gesundheitseinrichtung tätig und habe meine eigene wunderschöne Wohnung. Ich bin dabei, mir einen Freundeskreis aufzubauen. Ich liebe meine Arbeit und bin glücklich. Ich komme abends nach der Arbeit befriedigt nach Hause. Mehr als 20 Jahre lang habe ich ausser der Langstrasse nichts von der Schweiz gesehen. Ich war höchstens mal an der Bahnhofstrasse in Zürich. Nun entdecke ich die Schönheit des Landes und mache viele Ausflüge. Und das Wichtigste ist, dass ich endlich frei bin. (aargauerzeitung.ch)
Was mich aber mehr als nur ein bisschen wütend macht, ist, dass es dem Staat nicht besser gelingt, diese kriminellen Machenschaften zu durchbrechen. Es entsteht auch der Eindruck, dass es nur sehr halbherzig versucht wird. Das Leben einer Prostituierten scheint weder Wert noch Priorität zu haben.
Bin nicht unbedingt für ein Verbot, aber die Freiwilligkeit muss unbedingt gewährleistet sein. Ist sie aber nicht..
Der einzige Weg, diesem Albtraum einen Riegel vorzuschieben, ist Aufklärung. Wir Männer müssen mit diesen Abscheulichkeiten konfrontiert werden. Am besten schon in der Sek - Pornos werden dann ja eh schon geschaut - so lange, so intensiv, dass es niemand mehr schönreden kann. Nur, wenn die Kundschaft ausbleibt, wird es irgendwann unlukrativ für Menschenhändler, Schlepper und Drogenhändler.
Ich bin dankbar für Lisa und alle anderen, die sich getrauen, diese Qualen öffentlich zu bezeugen.
Ich wünsche ihr, dass sie ihr restliches Leben in vollen Zügen geniessen kann. An der Stelle ein grosses Dankeschön an allen die Frauen in solchen Situationen helfen auszusteigen. Das muss echt die Hölle sein...