Es ist fast 23.00 Uhr an der Rue de Genève. Eines, zwei, drei Mädchen, alleine oder in kleinen Gruppen, sind um diese Zeit hier, um anzuschaffen. Ein paar Schritte weiter beherrschen bereits mehr Strassenmädchen, vor allem Rumäninnen und Bulgarinnen, die Szene auf dem Strassenstrich. An diesem Donnerstagabend sind es rund 30.
Regelmässig fahren Autos durch das Quartier, wo die Prostitution in einem abgesteckten Perimeter von den Behörden zugelassen ist. Hier koexistieren Bürokomplexe neben Lagerhallen und öffentlichen Gebäuden, die sich am Abend entvölkern.
Bis vor kurzem kamen viele Prostituierte hierher, um einen Freier auf der Strasse aufzugabeln und diesen anschliessend in eines der Studios an der Rue de Genève 85 mitzunehmen. In diesem Wohnblock wohnten und arbeiteten rund 80 Frauen, verteilt auf 13 sogenannte Massagesalons. Diese wurden im letzten Mai wegen wiederholter Verstösse gegen das Gesetz über die Ausübung der Prostitution und wegen Verletzung der Bauvorschriften geschlossen.
Seither «ist es eine Katastrophe», sagt Livia* eine 20-jährige, schlanke Rumänin. Sie trägt einen Minirock, rosa Strümpfe und Schuhe mit schwindelerregend hohen Absätzen. «Wir haben keinen Ort mehr, um uns zu waschen oder auf die Toilette zu gehen», erzählt die Rumänin. Der käufliche Sex findet meist in den Autos der Freier statt, manchmal auch bei den Kunden zu Hause.
Ein Wagen hält an. Livia steigt ein. Sie umklammert einen Plastiksack, der feuchte Reinigungstücher, Präservative und manchmal auch eine Flasche Wasser enthält, um sich zu waschen. Nach rund 20 Minuten ist das Mädchen zurück und wird rasch von einem neuen Kunden angesprochen.
Die Schliessung der Massagesalons hat die Prostituierten verunsichert. Früher konnten die Frauen die Türe ihres Salons öffnen und eine Kollegin rufen, wenn es Probleme gab. Heute sind sie allein mit dem Freier.
«Wir haben etwas mehr Diebstähle festgestellt, aber vor allem ist das Gefühl der Unsicherheit gestiegen», relativiert Sylvain Lienhard, Inspektor der Sittenpolizei der Stadt Lausanne, die Aussagen der betroffenen Frauen.
Für die Behörden war die Schliessung der Massagesalons an der Rue de Genève unvermeidlich. Die Sexarbeiterinnen waren dort in kleinen Zimmern zusammengepfercht. Eine Wohnung mit drei Zimmern wurde nicht selten in sechs Zimmer aufgeteilt; manche Salons hatten weder Fenster noch Belüftung. Ausserdem wurden die Brandschutzvorschriften nicht respektiert.
Weshalb also nicht in einem anderen Salon arbeiten? «Man hat mir ein Studio für 600 Franken pro Woche angeboten», erzählt ein Mädchen. «Das Bett befand sich aber im Badezimmer». Sie lehnte ab.
Rund 50 Prostituierte, die ihr Dach über dem Kopf verloren haben und nun auf der Strasse stehen, haben ihrer Verzweiflung und zum Teil auch ihrer Wut in einem Brief an die Behörden Luft gemacht: «Wer zahlt den Preis für diese Schliessung? Das sind wir. Wir befinden uns nun auf der Strasse. Dabei sind wir doch menschliche Wesen und keine Tiere», empört sich Karen.
Profiteure seien die Kunden: Sie würden die Preise drücken und ungeschützten Sex verlangen. «Wir haben den Stadtbehörden geschrieben, weil wir jemanden brauchen, der uns zuhört», fügt Karen hinzu. Das einzige, was man verlange, sei ein kleiner Winkel – vor allem im Hinblick auf den Winter. Eine Antwort der Behörden hat Karen bisher nicht erhalten. Die Lausanner Polizei hat derweil seit August ihre Präsenz auf dem Strassenstrich verstärkt. (rar/sda)
* Name geändert