2012 reiste Giulia Steingruber mit der Referenz einer Bronzemedaille im Sprung bei den Europameisterschaften in Budapest nach London an ihre ersten Olympischen Spielen. Mit 18 Jahren war sie damals die Jüngste in der Schweizer Delegation und von den Dimensionen des Mega-Events fast schon erschlagen. «Ich war so überwältigt, dass ich gar nicht wusste, wie ich meine Gefühle einordnen soll», sagt die Ostschweizerin am Freitag in Tokio.
Inzwischen ist Steingruber sechsfache Europameisterin, im Frühling gewann sie in Basel zum vierten Mal im Sprung EM-Gold. Und 2016 in Rio de Janeiro gewann Steingruber mit Bronze in ihrer Paradedisziplin als erste Schweizerin im Kunstturnen eine Olympia-Medaille.
Die Olympischen Spiele waren nicht nur der Höhepunkt in ihrer Karriere, sondern auch ein Wendepunkt. Denn im Final am Boden war sie mehrfach gestürzt und hatte sich dabei einen Teilanriss des Aussenbandes sowie Knochenabsplitterungen im Sprunggelenk zugezogen. Im Sommer 2018 folge der nächste Rückschlag, wieder am Boden. Steingruber riss sich bei einem Drei-Länder-Wettkampf im Vorfeld der Europameisterschaften das Kreuzband im linken Knie. Dazwischen hatte sie 2018 mit WM-Bronze die letzte Lücke in ihrem Palmarès geschlossen.
Auch dieses Jahr verlief nicht ohne Komplikationen. Mitte April erlitt sie einen Muskelfaserriss im linken Oberschenkel, der dazu geführt hatte, dass Steingruber bei den Europameisterschaften auf den Bodenfinal. Die Genesung nahm mehr Zeit in Anspruch als erhofft. Im Juni brach die Verletzung nochmals auf. Im März wurde sie 27, das ist für eine Turnerin ein fortgeschrittenes Alter. Und obwohl sie sich noch nicht dazu äussern will, ist wahrscheinlich, dass sie in Tokio nicht nur ihre dritten, sondern auch ihre letzten Olympischen Spiele bestreitet.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben Giulia Steingruber zum Umdenken gebracht, wohl auch im Wissen, dass sie sich dem Ende der Karriere nähert. Auf neue Sprünge, an denen sie zum Teil schon seit Jahren arbeitet, verzichtet sie im Wettkampf. Lieber verlässt sie sich auf ihr Standardrepertoire, das sie sauber und zuverlässig turnen will. Sie sagt: «Ich möchte nicht meine Gesundheit riskieren.» Der Nachteil: Steingrubers Übungen haben einen tieferen Ausgangswert als die ihrer Konkurrenz. Sie legt damit ihr Schicksal in fremde Hände. Denn Steingruber wird nur dann eine weitere Olympia-Medaille gewinnen, wenn die Konkurrenz patzt.
Sie sagt: «Gold und Silber sind eigentlich schon an die USA vergeben.» An Simone Biles und Jade Carey. Und Steingruber gibt unverblümt zu:
Neben der Finalqualifikation im Sprung möchte sie sich auch im Mehrkampffinal für den Final qualifizieren. Ob Steingruber auch am Boden eine Übung turnt, die dafür ausreichen könnte, ist fraglich.
Denn beim Podiumsturnen vom Donnerstag hatte sie festgestellt, dass der Boden im Ariake Gymnastics Centre aussergewöhnlich hart ist. Sie sagt: «Der Boden ist so hart, dass ich das Gefühl hatte, ich würde auf Beton landen.» Und das ist Gift für ihren Oberschenkel, der nach wie vor viel Pflege braucht, sie aber nicht mehr beschäftige. Das Vertrauen in den eigenen Körper ist Voraussetzung für Erfolg, denn die Leistungsdichte ist so hoch, dass die Qualifikation am Sonntag kein Selbstläufer wird. Sie sagt: «Wenn ich nicht gut turne, komme ich nicht weiter.»
Doch die Erfahrung spricht für die Steingruber. Die speziellen Begebenheiten– tägliche Spucktests, strenge Maskenpflicht, Temperaturcheck beim Betreten der Anlagen und das Fehlen der Zuschauer – werfen sie nicht aus der Bahn. «Abgesehen von den Schutzmassnahmen weiss ich, wie alles abläuft und kann mich auf mich konzentrieren», sagt sie. Trotzdem ist ihr nicht entgangen, dass die Konkurrenz in den ersten Trainings im Sprung Probleme hatten. Ihr hingegen sei es bisher gut gelaufen. Giulia Steingruber mag vielleicht nicht mehr ganz auf dem Niveau von 2016 turnen, doch sie hat immer noch eine Chance auf eine Medaille. Auch wenn sie ihr Glück für einmal in fremde Hände legen muss.