13 Jahre ist es exakt her, als dem FC Liverpool das wohl grösste Final-Comeback in der Geschichte der Champions League gelang. Damals holten die «Reds» gegen die AC Milan einen 0:3-Halbzeit-Rückstand auf und gewannen schliesslich im Penaltyschiessen. Es ist Liverpools bislang letzter Triumph in der Königsklasse.
Eine solche Sensation wie damals 2005 in Istanbul braucht Liverpool gegen Real Madrid nicht. Die Engländer sind zwar Aussenseiter, haben aber ihre eigenen Waffen, um das Finale nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Folgende fünf Punkte sind dabei elementar für den Erfolg:
Liverpool stellt mit dem Offensiv-Dreizack um Sadio Mané, Roberto Firmino und Mohamed Salah den aktuell besten Angriff der Welt. Das Trio hat bewiesen, dass es jede Abwehr in Verlegenheit bringen kann. Zusammen haben sie in dieser Saison bereits 90 Tore erzielt.
Dass der Angriff auch gegen grosse Gegner funktioniert, bewies Liverpool in der Champions League mit unfassbaren 40 Toren in den bisherigen 12 Spielen (3,3 Tore pro Spiel). Unter anderem hat man im Viertelfinal das in dieser Saison so starke Manchester City mit einem Gesamtskore von 5:1 eliminiert.
Mit dieser Offensive kann auch Real Madrid mehr als nur in Verlegenheit gebracht werden. Das «Weisse Ballett» kassierte in 12 Champions-League-Spielen bisher 15 Gegentreffer und geriet zuletzt gegen Juventus und vor allem die Bayern defensiv arg ins Schwimmen. Liverpool hat die Qualitäten, Real Madrid 2 bis 3 Tore einzuschenken – es ist ihre grösste Chance, sich selbst treu zu bleiben und konsequent die Offensive zu suchen. Findet der Liverpool-Angriff seine Spielfreude, ist er kaum zu stoppen.
Traut sich Liverpool sein unter Jürgen Klopp klassisches Offensiv-Pressing durchzuziehen, ist nicht nur die Real-Abwehr zu knacken, die technisch hoch veranlagten Mittelfeld- und Offensivspieler werden dadurch ebenfalls gezwungen, mehr Defensiv-Aufgaben zu erfüllen.
Schaffen es Salah und Co. offensiv Räume zu kreieren indem sie ihre Gegenspieler binden und zur Mitte ziehen, gibt es Platz für die offensiven Aussenverteidiger Andy Robertson und Trent Alexander-Arnold, die wiederum Reals Flügel oder Mittelfeldspieler zwingen, die Sprints zurück zu machen. Je mehr Energie die Real-Stars in der Defensive aufwenden müssen, desto weniger bleibt ihnen für die eigenen, gefährlichen Angriffe.
Gegen die Bayern hatte Real Madrid grosse Mühe mit den offensiv eingestellten Kimmich und Alaba auf den Aussenverteidiger-Positionen. Liverpool muss versuchen, mit dieser Massnahme ebenfalls hohen Druck auszuüben.
Das Problem bei Liverpools offensivem Spielstil ist Real Madrids Konterstärke. Die Spanier sind berüchtigt für ihr schnelles Umschaltspiel. Zudem haben sämtliche Spieler der «Königlichen» die Technik und Ruhe, um auch bei starkem Gegenpressing spielerische Lösungen zu finden.
Hier wird es gefährlich für den FC Liverpool. Wenn sich Real Madrid aus der Umklammerung löst, kann es schnell gehen. Hier heisst es volles Risiko für das Team von Jürgen Klopp, wenn es nicht anders geht, müssen taktische Fouls helfen – oder um die gute alte Fussballweisheit zu bemühen: Ball oder Mann.
Dass Liverpool zu vielen Aktionen in Reals Platzhälfte kommt, davon ist schwer auszugehen. Denn Liverpools Angriff ist schwierig auszurechnen, weil der heimliche Star der Mannschaft nicht der stark im Fokus stehende Mo Salah, sondern Mittelstürmer Roberto Firmino ist. Der Brasilianer macht mit seinen sehr guten offensiven Laufwegen die Räume für die Flügel Salah und Mané auf. Aber was dann?
Raphael Varane und Sergio Ramos sind zwei der weltbesten Innenverteidiger. Sie leben beide auch von ihrer Physis, vor allem sind sie unglaublich Kopfballstark. Bayern München versuchte es im Halbfinal unzählige Male mit Flanken – erfolglos. Das Duo köpfte praktisch sämtliche Flugbälle aus der Gefahrenzone.
Um die Innenverteidiger vor ernsthafte Probleme zu stellen, sollte die Liverpool-Offensive so oft wie möglich das Dribbling suchen. Denn in 1-gegen-1-Situationen wirken Varane und Ramos manchmal etwas hüftsteif und stecken mit ihrer rustikalen Art auch im Strafraum nicht zurück.
Gut möglich, dass Liverpool Real Madrid von Beginn weg überrumpelt. Presst, als gäbe es kein Morgen und dadurch sogar in Führung geht. Das wäre typisch für Liverpool. Typisch für Liverpool ist es aber auch, Vorsprünge wieder zu verspielen und gegen Ende des Spiels einzubrechen.
Oft kassierte Liverpool in der Schlussphase noch unnötige Gegentore. In den zwei Halbfinal-Spielen gegen die AS Roma klingelte es nach der 80. Minute noch vier Mal im Liverpool-Kasten. Das hohe, aggressive Pressing ist sehr laufintensiv, im Final müssen die Engländer aber bis zum Schluss durchhalten. Das gelingt am einfachsten, wenn sie in Führung liegend statt wie gewohnt blind nach vorne zu stürmen den Ball mal für einige Augenblicke sicher in den eigenen Reihen halten – dann können sie auch mal durchatmen. Doch genau damit hatten die «Reds» gegen Roma grosse Mühe.
Wie immer in Finalspielen wird viel von der Tagesform abhängen. Bei Liverpool ist der Faktor allerdings verstärkt. Spielen sich die «Reds» in einen Rausch, sind sie nicht zu bremsen. Wenn es allerdings nicht läuft, könnte es gegen das routinierte Real Madrid unglaublich schwierig werden.
Und selbst wenn Liverpool einen guten Tag erwischt, hat Real Madrid immer noch einen Cristiano Ronaldo. Und ein Cristiano Ronaldo ist immer ein Grund für den Sieg.
Zwar hat Liverpool mit James Milner und Jordan Henderson ein zweikampfstarkes Zentrum und durch die Verpflichtung von Virgil van Dijk im Januar hat auch die Verteidigung an Stabilität gewonnen, aber trotzdem könnte das zu wenig sein gegen Real Madrid. Drum muss das Fussball-Sprichwort «Hinten dicht und vorne hilft der liebe Gott», für Liverpool etwas abgeändert werden. «Vorne treffsicher und hinten hilft der liebe Gott.» Nur so können sie die Titanen aus Madrid am Champion-League-Hattrick hindern.