Als die Geschosse links und rechts neben mir einschlagen, wünsche ich mir, ich hätte auf meinen Kollegen gehört und einen Helm mitgenommen. Wenn ich sie doch wenigstens sehen könnte! Rolf lacht nur, er ist zwar schon über 60 Jahre alt und trägt eine Brille, doch er sieht jedes Geschoss genau. Er schaut zum bewölkten Himmel und sagt: «Bestes Hornussen-Wetter.»
Als Norddeutscher ist mir das flache Land näher als der Berg. Dennoch stehe ich an einem Samstag im April auf einer hügeligen Weide im Berner Mittelland, rechts neben mir ein beeindruckendes Alpen-Panorama, davor fressen ein paar Kühe gelangweilt Gras und klingeln mit ihren Glocken. Wissen die denn nicht, dass hier ständig gefährliche Geschosse herunterkommen?
«Es gibt schon Verletzungen. Gebrochene Finger zum Beispiel, oder auch mal ein verlorenes Auge», sagt Rolf über das Hornussen, während ich vergeblich versuche, den Himmel nach den kleinen fliegenden Kunststoff-Pucks abzusuchen. Die Hornuss-Spieler von Zuchwil scheinen damit kein Problem zu haben. Sie brüllen sich gegenseitig Anweisungen zu, jedenfalls glaube ich das, denn mein Schweizerdeutsch ist einfach miserabel.
«Hornussen?», frage ich meine Kollegen in der Sportredaktion ein paar Tage vor dem Artilleriebeschuss. «Ja, das ist ein traditioneller Urschweizer Sport, der vor allem in Bergregionen gespielt wird. Ist doch witzig, wenn du da als Deutscher mal hin gehst.» Ich sage zu und überlege, was denn ein traditioneller Schweizer Sport sein kann.
Wenn ich an Deutschland denke, dann fällt mir zum Beispiel Bosseln ein, eine Beschäftigung, der vor allem im Norden mit grosser Begeisterung nachgegangen wird. Dabei wird eine Kugel kilometerlang die gerade Strasse entlang geworfen und es wird Schnaps ausgeschenkt (beide Aktionen sind gleich wichtig).
Aber Hornussen? Keine Ahnung. Der Computer guckt mich verführerisch an. Ein bisschen Wikipedia, ein bisschen YouTube, danach könnte vieles klarer sein. Aber das wird mir nicht gewährt: «Ich finde es besser, wenn du dich nicht informierst, sondern einfach hinfährst», sagt der Chef. Also keine Recherche.
Auf der Hinfahrt flackert mir der Gedanke an Bergbauern in Hosenträgern, mit urigen Trachten und Hüten durch den Kopf, ich verscheuche ihn schnell wieder. Doch als ich meinem Zielort näher komme, Schweine, Kühe, Heuschober und einen grimmig dreinschauenden Mann sehe, der seinen Traktor mit einem Eimer Wasser übergiesst, und mich im Klubhaus eine Kuhglocke anlacht, bin ich mir plötzlich unsicher. Doch Trachten?
«Früher war das so, aber heute nicht mehr», sagt Rolf und zündet sich eine Zigarre an. Früher hat er selbst erfolgreich gehornusst, heute guckt er dem Nachwuchs zu. Die Spieler tragen Trainingsanzüge und sind von jeglicher Statur, manche gertenschlank, manche, nun ja, nicht gertenschlank. Junge Männer sind dabei, und auch etwas ältere. Der noch ältere Rolf erklärt: «Es kommt auf die Technik an, aber erst die Kraft macht die Weite.»
Hornussen ist eine Kreuzung aus Golf, Baseball und ein klein wenig auch Fliegenfischen. Mit Karbonstäben, an dessen Ende ein Holzklotz befestigt ist, schlagen die Spieler nacheinander die sogenannte Nouss weg, je weiter, desto mehr Punkte gibt es. Die gegnerischen Spieler stehen auf dem Feld und versuchen, ihn mit überdimensionalen Racelette-Spachteln aufzuhalten. Etwa 10'000 Menschen betreiben den Sport in der Schweiz.
Ich staune nicht schlecht, als ich die ersten Schläge beobachte. «Wow», sage ich und ich bereue es, denn prompt ernte ich kritische Blicke des fachkundigen Publikums, das sich mit Bier und Zigarren hinter dem Abschlagpunkt versammelt hat. «Das war nix», erklärt mir Rolf: «Er hat ihn nicht richtig getroffen.» Ich nicke und verschweige, dass ich den Nouss überhaupt nicht gesehen habe. Kein Wunder, beim Abschlag werden sie bis zu 300 Stundenkilometer schnell.
Je länger die Partie andauert, desto klarer wird: Zurchwil ist nicht gut drauf, Wäseli wird dieses Spiel gewinnen. Die Noussen fliegen überall hin, nur nicht in die Endzone, die bei etwa 300 Metern liegt und die meisten Punkte bringt. «Die sind nervös. Es ist eben das erste Saisonspiel», sagt Rolf.
Als der erste Team-Wechsel ansteht, stolpere ich den Spielern hinterher auf die Wiese. Überall im Boden stecken die kleinen Geschosse. Ich denke sofort an den Tipp meines Kollegen und überlege, ob ich mir einen Ersatzhelm schnappen soll, der in der Gegend rumliegt. «Helmpflicht besteht bei den Spielern für alle ab 1984 geborenen», sagt Rolf. Merkwürdige Regelung, denke ich und verzichte dennoch auf den Kopfschutz, da die ersten Geschosse weit entfernt von uns runterkommen.
Doch plötzlich laufen die Spieler brüllend in unsere Richtung. Ein bulliger Mann wirft seinen Raclette-Schaber in die Luft und es kracht laut. Ich bin fest überzeugt: Sein erstaunliches technisches Geschick hat mir eine schmerzhafte Begegnung mit der schwarzen Scheibe erspart hat. Die Kühe auf der Nachbarweide schauen mich verächtlich an. Feigling, muhen sie.
Ich habe schon fast aufgegeben, die Noussen zu erkennen und stehe im Regen nahe des Clubhauses. Frustriert trinke ich ein Bier, da passiert es: Kurz nach dem Abschlag sehe ich auf einmal einen schwarzen Gegenstand am Himmel: Der Nouss! Da fliegt er doch! Eine Täuschung? Nein, auch den nächsten sehe ich. Na also, denke ich. Und werde übermütig. Ich frage Rolf, ob ich auch mal eine Nuss wegkloppen kann. Rolf lacht nur: «Du würdest überhaupt nichts treffen», sagt er: «Davon gehen höchstens die teuren Stäbe kaputt.»
Schade, denke ich. Dann muss ich eben beim Bosseln bleiben. Immerhin gibt es dort mehr Schnaps.