Der Sport kann gnadenlos sein. Das Resultat entscheidet über Sieg oder Niederlage. Sein oder Nichtsein. Momentaufnahmen können ganze Karrieren beeinflussen – im positiven wie im negativen Sinn. Ein Gegentor im falschen Augenblick. Ein Misstritt zur Unzeit. Und schon ist der Auftritt verpatzt.
Die Konsequenzen oft gravierend. Patrick Fischer kann ein Lied davon singen, welche emotionalen Achterbahnfahrten der Sport bisweilen zu erzeugen vermag. Gestern noch der Sündenbock. Heute der Held. Fischer hat es vor einem Jahr erlebt. Er ist innerhalb weniger Wochen auferstanden. Nachdem er eigentlich schon totgesagt war.
Doch beginnen wir von vorne. Es ist der Januar 2018. Patrick Fischer, der Trainer der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft, verbreitet Optimismus. Die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang stehen vor der Tür. Fischer äussert die Worte, die ihm später um die Ohren gehauen werden sollten: Er träumt vom Gewinn einer Olympia-Medaille.
Das tut er nicht in einem Anflug von Grössenwahn, sondern mit gutem Grund: Die Schweizer hatten an der WM in Paris im Frühling 2017 gut abgeschnitten gegen Konkurrenten, die mit zahlreichen Spielern aus der NHL angetreten waren. Da diese Akteure aus der besten Liga der Welt an Olympia fehlen und die Schweizer dafür mit einer fast unveränderten Mannschaft auflaufen würden, war Fischers Optimismus durchaus nachvollziehbar.
Doch dann kam alles anders. Eine dieser Momentaufnahmen, eine Unaufmerksamkeit im Achtelfinalspiel gegen Deutschland reichte, um den Medaillen-Traum viel zu früh und geräuschvoll platzen zu lassen. 1:2 verloren die Schweizer nach Verlängerung. Das Turnier war zu Ende, ehe es richtig begonnen hatte.
An den Bildschirmen sind die fassungslosen Blicke und hängenden Köpfe präsent. Die Mannschaft von Patrick Fischer hatte fast alle Wünsche offengelassen. Der Sündenbock war in der breiten Öffentlichkeit und in Teilen der Medien schnell eruiert: Der Nationaltrainer, dem es offensichtlich nicht gelungen war, seine Mannschaft auf Kurs zu bringen. Der Nationaltrainer, der das Maul zu voll genommen hatte.
Aber wie hat Patrick Fischer selber die Zeit nach dem Olympia-Absturz erlebt? «Als die Deutschen in der Verlängerung das Tor geschossen haben und das Turnier für uns mit einem Schlag zu Ende war, ist der Verarbeitungsprozess losgegangen. Da war erstmals eine Leere. Man rechnet nicht damit, dass es passieren kann», erinnert sich Fischer.
Das Wichtigste sei für ihn in der ersten Phase nach dem Olympia-Debakel gewesen, mit den Nationalspielern zu reden. «Haben sie noch das Vertrauen ins Coaching-Team? Glauben sie an den Prozess? Wenn die Spieler nicht mehr an das Projekt glauben, dann wird es schwierig. Dann muss man aufhören», erzählt Patrick Fischer. «Aber ich spürte, dass das Vertrauen da war. Und ich wusste, dass wir uns revanchieren werden.» Zumal er auch von seinen unmittelbaren Vorgesetzten im Eishockey-Verband die entsprechende Rückendeckung erhielt.
Aber da waren ja auch noch die öffentliche und die mediale Wahrnehmung, welche mitunter einen Einfluss auf die Entscheidungsfindung von Sportfunktionären haben können. Patrick Fischer, der Ende 2015 ohne grossen Erfolgsausweis den Posten des Nationaltrainers übernommen hatte, wurde von Anfang kritisch beäugt. Jetzt sahen seine Kritiker endgültig den Zeitpunkt gekommen, ihn aus dem Amt zu fegen.
Wie war es für Fischer, sich mit dieser negativen Kritik auseinanderzusetzen? «Was die Leute rundherum sagen, kann ich nicht kontrollieren und auch nicht gross beeinflussen. Wir können ja nicht mehr tun, als uns so gut wie möglich zu präsentieren. Nach Pyeongchang war es relativ unruhig im Schweizer Eishockey-Universum gegenüber mir und der Mannschaft. Ich spürte gewisse Zweifel im Umfeld. Wir haben ja gewusst, dass wir nicht geliefert haben. Aber das ist der Sport. Mit dem muss man umgehen können.»
Beim Verarbeitungsprozess kam Patrick Fischer, der sich gerne vertieft mit der Kultur der Indianer auseinandersetzt, sicher auch sein Charakter zugute. Er war schon als Spieler ein Mensch, der die Leichtigkeit des Seins genoss, der kein Risiko scheute, auch mal die Grenzen auslotete und immer mutig seinen Weg ging, der ihn – entgegen aller Erwartungen – auch in die beste Liga der Welt, in die NHL, oder nach Russland in die KHL führte.
Er sagt: «Ich bin keiner, der sich in so einem Moment lange den Kopf zerbricht. Ich habe mein Bestes gegeben. Ich sagte mir: ‹Heute macht es weh. Morgen ist ein neuer Tag. Helm richten und auf gehts.› So bin ich. Mit Selbstmitleid verliere ich sowieso keine Zeit.»
Wichtig sei für ihn gewesen, «zu spüren, dass die Spieler unbedingt in die Nationalmannschaft kommen wollen. Und das war die Bestätigung dafür, dass der Glaube immer noch vorhanden ist, dass wir etwas Grosses schaffen können.» Es passt zu dieser Geschichte über Sieg und Niederlage, dass die Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft und ihr Headcoach gut drei Monate nach dem Debakel von Pyeongchang an der WM in Kopenhagen tatsächlich etwas Grosses schaffte.
Dabei wusste Patrick Fischer, dass das Turnier in der dänischen Hauptstadt hinsichtlich seiner Zukunft wegweisenden Charakter haben würde. Er wusste: Ein neuerliches Scheitern kann er sich nicht erlauben. Der Druck wäre auch auf seine loyalen Vorgesetzten zu gross geworden. Trotz eines bis zur Heim-WM 2020 gültigen Vertrags.
Und dann schrammte das Team in Dänemark nur um Haaresbreite am grössten Triumph der Geschichte des Schweizer Eishockeys, dem Gewinn des allerersten WM-Titels, vorbei. Im Final unterlag man den Schweden äusserst unglücklich erst im Penaltyschiessen. Zwar war die Stimmung unter den Spielern und den Trainern auch nach dieser bitteren Niederlage ähnlich niedergeschlagen wie in Südkorea.
Doch schon am nächsten Tag waren die negativen Gefühle wie weggeblasen. Spätestens, als die Schweizer Crew beim Flughafen in Zürich von Tausenden begeisterten Fans empfangen und für die Silbermedaille gefeiert wurde, da wurde allen Beteiligten bewusst, dass sie tatsächlich etwas Grosses erreicht hatten.
Patrick Fischer hat also eine dieser typischen Geschichten erlebt, die nur der Sport mit seinen Emotionen und seiner Unberechenbarkeit zu schreiben vermag. Und er hat sich damit auch endlich den Kredit erarbeitet, den man in dieser schnelllebigen, resultatorientierten Welt braucht, um auch mal ein wenig in Ruhe arbeiten zu können. Sollten die Schweizer in wenigen Wochen an der WM in der slowakischen Hauptstadt Bratislava enttäuschen, dann wird niemand mehr den Kopf des Nationaltrainers fordern. (aargauerzeitung.ch)