Wissen Sie noch, was Sie am 4. November 2023 getan haben? Vermutlich nicht. Jemand wird dieses Datum nicht vergessen: Leon Muggli. Mit einem präzisen Handgelenkschuss in den Netzhimmel liess der 17-Jährige den doppelt so alten Goalie Robert Mayer vom HC Genève-Servette noch ein bisschen älter aussehen. Ein Traum jedes Juniors: ein Tor bei den Profis. Es war ein Abend, der sich ins Gedächtnis des Teenagers einbrannte.
Lediglich acht Monate später folgt das nächste bedeutende Erlebnis, dieses Wochenende nämlich mit dem NHL-Draft in Las Vegas in der kugelförmigen Eventhalle «Sphere», wo knapp 19000 Zuschauer Einlass finden. Muggli werden gemäss Draft-Ranking die aussichtsreichsten Perspektiven aller Schweizer Kandidaten eingeräumt. Er kann sich realistische Chancen ausrechnen, in der zweiten Runde gezogen zu werden.
Der Verteidiger ist heute Mittwoch zusammen mit einer kleinen Delegation, bestehend aus seinen Eltern, Sportchef Reto Kläy, seinem Agenten Daniel Giger sowie Andreas Rindlisbacher, medizinischer Berater beim EV Zug, nach Übersee geflogen. Die Talentziehungen werden jeweils von einem riesigen medialen Echo und allerlei Brimborium begleitet. Angespannt, nervös? Von wegen. «Vorfreude» sei das dominierende Gefühl, sagt Muggli cool und lässig. «Jetzt kann ich eh nichts mehr beeinflussen. Ich will es einfach nur geniessen und alles aufsaugen.»
Aufgrund des stark wachsenden Interesses an seiner Person versuchte der EVZ, ihn so gut wie möglich vom Rummel abzuschirmen, und verhängte ein Interviewverbot als Schutzmassnahme. Nach mehreren Anläufen unserer Zeitung willigte der Klub schliesslich ein.
Wir treffen Muggli im Trainingszentrum OYM in Cham, wenige Tage nach dem Draft Combine - ein mehrtägiges Camp, welches in Buffalo stattgefunden hat. Dort werden die Talente regelrecht durchleuchtet und ihre Leistungsfähigkeit geprüft: Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Schnelligkeit. Etwa vergleichbar mit der militärischen Aushebung. «Ich bin zufrieden mit den Tests», sagt Muggli, der nicht alle Übungen absolvieren kann, da er wegen einer Schulterverletzung leicht handicapiert ist.
Doch die nackten Zahlen interessieren herzlich wenig, wenn die Persönlichkeit des Spielers nicht den Erwartungen entspricht. So sind auch Gespräche mit Verantwortungsträgern an der Tagesordnung. Nicht weniger als 23 NHL-Organisationen laden ihn zum Interview ein. Hobbys, Familie, Stärken, Schwächen, Vorbilder, Zukunft. Viele Fragesteller wollen Ähnliches wissen. Meistens sind es banale Fragen, die auf der Hand liegen. Doch teilweise werden auch seltsame Dinge gefragt. So wird auch Muggli mit einer speziellen Frage konfrontiert: «Hast du das Uber-App?» Er verneint. Die Frage zielt darauf ab, ob er von sich behauptet, ein freundlicher Fahrgast zu sein. Denn auf der App können die Fahrer ihre Fahrgäste bewerten, auf einer Skala von eins bis fünf.
Nicht so eine «Coiffeurheftli-Psychologie», wie es NHL-Scout Thomas Roost nennt, sei der Grund, weshalb letzte Saison die Talentspäher in Scharen den Medienraum im Bauch der Bossard-Arena bevölkerten, sondern Mugglis Qualitäten. Fachleute, Scouts und Manager geraten ins Schwärmen, wenn sie auf ihn angesprochen werden. So hagelt es Lob von allen Seiten. Leon Muggli, der gut geerdete Zuger Bub, lässt sich von Komplimenten nicht aus der Fassung bringen. «Ich habe meinen Mitspielern und dem Trainer viel zu verdanken. Sie haben mir Vertrauen geschenkt und mich zu einem besseren Spieler gemacht.»
Geplant war eigentlich, Muggli behutsam ans National-League-Niveau heranzuführen. Doch nach einer starken Vorbereitung schreckt Trainer Dan Tangnes nicht davor zurück, ihn ins kalte Wasser zu werfen. Es erweist sich als kluger Entscheid. Muggli hat keine Startprobleme. Mit durchschnittlich 12 Minuten pro Spiel fällt die Eiszeit üppig aus. Auf den Kufen vereint er beneidenswertes Talent. Ein Spieler mit dem gewissen Etwas. Er überzeugt mit stabilen Leistungen und steht manchem um Jahre erfahreneren Abwehrspieler in Nichts nach. Instinktiv und blitzschnell erfasst er jede Situation und gerät auch unter Druck nicht in Panik. Unbekümmertheit gepaart mit Reife.
Muggli selbst erklärt die rasche Adaption so: «Ich versuchte, aus Fehlern zu lernen, ich selbst zu sein, meine Rolle auszufüllen.» Da schwingt doch einiges an Understatement mit. Denn nicht zu unterschätzen ist: Neben seinem Full-Time-Job EV Zug trägt er weitere Hüte: schulische Verpflichtungen, Einsätze mit dem Nationalteam, Gespräche mit Scouts. Wie hat es der Teenager geschafft, den Fokus aufs Wesentliche zu behalten? «Ich lebe im Moment und studiere nicht zu viel herum», antwortet er, als gäbe es nichts Einfacheres auf dieser Welt.
Muggli hat die Bodenhaftung nicht verloren. «Ich habe in meinem Leben bisher nicht viel erreicht. Wieso also abheben?» Seine Worte klingen nicht aufgesetzt, sondern reflektiert. Das hat auch mit seinem Elternhaus zu tun. «Ich wurde gut erzogen. Mir liegt es fern zu glauben, etwas Besseres zu sein. Der Draft ist auch ein Geschenk an meine Eltern, die alles für mich tun und mir immer den Rücken stärken.»
Für Sportchef Reto Kläy ist die Entwicklung des Verteidigers erfreulich: «Beeindruckend, wenn man bedenkt, wie viele Eindrücke auf ihn eingeprasselt sind.» Im selben Atemzug tritt er auf die Euphoriebremse und warnt vor überzogenen Erwartungen. Auch der Spieler selbst hat eine realistische Sicht, was von Reife zeugt. «Step by step. Der Draft alleine garantiert sowieso keine Karriere», so Muggli, der schon seit vielen Jahren zu Toronto-Stürmer Auston Matthews (erster Draftpick von 2018) aufblickt.
Wie hat sich Muggli überhaupt in die Situation katapultiert, in der er sich nun befindet? Aufgewachsen mit drei älteren Geschwistern stammt er aus einer sportaffinen Familie, der Vater ist Sportlehrer. Ob Fussball, Golf, Basketball, Biken, Squash, Paddle-Tennis oder Skifahren. Muggli ist polysportiv unterwegs, Ehrgeiz und Wissbegierde steckten schon immer in ihm und sind sein Antrieb. Die Ausbildung beim EVZ endet 2026. Sportchef und Agent finden, dass er von einem oder zwei weiteren Jahren beim EVZ profitieren kann. Wie genau die Karriere weitergeht, hängt auch von der NHL-Organisation ab, die sich seine Rechte sichert. Agent Daniel Giger sagt: «Wir alle werden zusammensitzen und schauen, was für ihn das Beste ist.»
Der Countdown läuft. Der Draft, er wird im Leben von Leon Muggli einen besonderen Stellenwert einnehmen, egal was kommt. Oder um es mit der Maxime von Leon Muggli auszudrücken: «Im Moment leben».
Welche Qualitäten bei Leon Muggli sind vor allem ins Auge gestochen? Mit welchen Massnahmen kann der hiesige Nachwuchs besser gefördert werden? Thomas Roost ist NHL-Scout in Europa mit einer beratenden Funktion bei mehreren Schweizer Teams. Wir haben beim Szenenkenner nachgehakt.
Leon Muggli hat bei den Profis sofort eingeschlagen. Waren Sie überrascht?
Thomas Roost: Nein, überhaupt nicht. Ich habe bereits vor Jahren das Talent in ihm schlummern sehen. Er hat einen beachtlichen Reifeprozess durchgemacht. Für sein Alter ist er stock- und schlittschuhtechnisch schon extrem weit.
Was beeindruckt Sie an ihm speziell?
Er spielt in allen Zonen solid und ist sehr mobil. Leichtigkeit und Lockerheit zeichnen ihn aus. Er hat vor allem als Defensivverteidiger von sich reden gemacht, aber mit der Zeit auch offensiv Fortschritte erzielt. Er traut sich immer mehr zu.
Denken Sie, Leon Muggli wird gar ein Erstrundenpick?
Das erscheint mir unwahrscheinlich. Ich sehe ihn als späten Zweitrundendraft. Gegen Ende der Saison hatte er leistungsmässig eine kleine Baisse, weshalb ich ihn nicht weiter vorne erwarte. Er besitzt jedenfalls Qualitäten, um sich später mal in der NHL festzusetzen.
Wie sieht der ideale Karriereplan aus, um den Sprung in die NHL zu schaffen?
Den absoluten Königsweg gibt es nicht, sondern gute und bessere. Für ihn ist es eminent wichtig, dass beim EV Zug auf ihn gesetzt wird und er das Vertrauen des Trainers geniesst.
Punkto Nachwuchs scheint die Schweiz auf internationaler Ebene von den Top-Nationen komplett abgehängt zu werden. Wie soll hier Gegensteuer gegeben werden?
Wir haben riesigen Aufholbedarf bei der Aus- und Weiterbildung der Trainer. Um in diesem Bereich vorwärts zu kommen, kommt der Verband nicht drum herum, Geld in die Hand zu nehmen. Ich habe grossen Respekt vor allen ehrenamtlichen Trainern, doch in Finnland und Schweden sind die Coaches einiges besser ausgebildet und qualifiziert. Wenn wir in diesem Bereich nichts unternehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir in den nächsten Jahren von weiteren Nationen überholt werden. (aargauerzeitung.ch)