Nach dem ersten Eistraining am Freitagnachmittag ist Silber-Nationaltrainer Sean Simpson bester Laune. Noch hat er keine heiklen Entscheidungen zu rechtfertigen. Weit und breit ist keine Polemik im Anzug und kein Chronist provoziert ihn mit unbotmässigen Fragen. Erst am Tag vor dem ersten Spiel (am Mittwoch gegen Lettland), dann, wenn auch alle Spieler aus der NHL da sind, muss der Trainer des Jahres 2013 sein Olympia-Team definitiv nominieren und entscheiden, wer da bleibt und wer sofort heimfliegen muss.
Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt selbst SCB-Verteidiger Philippe Furrer auf der Liste der definitiv gemeldeten Spieler. Obwohl er wegen einer Gehirnerschütterung abgesagt hat. Denn Simpson muss, wenn er einen Spieler von der definitiven Liste streicht, auch gleich den Ersatzmann angeben. Er will sich bis zum letzten Augenblick alle Optionen offen lassen.
Die Schweizer können vor dem Turnier kein offizielles Testspiel austragen. Die olympischen Gesetze verbieten nach der Eröffnung Testwettkämpfe auf dem olympischen Gelände. Deshalb ist die Partie gegen Norwegen abgesagt worden und gegen Russland tragen wir am Sonntag (16.30 Uhr) ein «Geisterspiel» aus. Ein sogenanntes «kombiniertes Training». Sprich die Schweizer und die Russen legen ihre Trainingseinheiten zusammen. Sie spielen noch ohne die NHL-Verstärkungen in der Trainingshalle eine Partie ohne Matchuhr: dreimal 25 Minuten ohne gestoppte Zeit, geleitet von Amateurschiedsrichtern, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Sean Simpson fasst seinen Führungsstil hier in Sotschi in einem launigen Satz zusammen: «Keine Regeln, also gebt acht, dass ihr keine Regeln bricht». Ein antiautoritärer Führungsstil. Der Kanadier setzt für die Zeit des Turniers auf die Eigenverantwortung seiner Jungs. Es gibt auch keine Zimmerstunde.
Ein olympischer Hockeyskandal wie 2002 in Salt Lake City ist nicht zu befürchten. Damals wurden Reto von Arx und Marcel Jenni nach verspäteter Heimkehr ins olympische Dorf und angeblicher Trunkenheit vorzeitig nach Hause geschickt.
Geht es in Sotschi so weiter wie im Frühjahr bei der Silber-WM in Stockholm? Ist es gelungen, den Geist von Stockholm zu bewahren? «Stockholm war gestern und ist vorbei», sagt Sean Simpson. «Jedes Turnier wieder von vorne. Aber wir nehmen aus der WM das Selbstvertrauen mit, dass wir dazu in der Lage sind, jeden Gegner schlagen zu können».
Die Verstärkungen aus der NHL treffen am Montag in Sotschi ein. Sean Simpson kann anschliessend nur zweimal mit dem kompletten Team trainieren. Damit alle mit dem Spielsystem vertraut sind, hat der Nationaltrainer ein viertelstündiges Video mit allen taktischen Anweisungen zusammengestellt und den Spielern in Übersee zukommen lassen.
Anders als bei der WM ist in den Gruppenspielen (Mittwoch Lettland, Freitag Schweden, Samstag Tschechien) ein Scheitern noch nicht möglich. So oder so sind wir mindestens im Achtelfinale. Die drei Gruppensieger und der beste Zweitplatzierte sind bereits fürs Viertelfinale gesetzt. Frühestens nach einer Niederlage im vierten Spiel (im Achtel- oder Viertelfinale) wird Sean Simpson seine gute Laune verlieren. Und das gleich aus doppeltem Grund.
Die Schweizer haben nämlich ganz nebenbei eine neue olympische Disziplin kreiert: Um den heissen Brei herumreden. Es ist mehr als bloss ein Gerücht, dass Mannheim (deren Besitzer ist Milliardär) Sean Simpson verpflichten möchte. Die Vertragsverlängerung unseres Silber- Nationaltrainers um vier Jahre bis Olympia 2018 schien im letzten Herbst nur noch eine Formsache. Aber seither regt sich Widerstand in der Liga gegen die lange Vertragsdauer und inzwischen haben sich Verhandlungen um eine Verlängerung des Ende Saison auslaufenden Kontraktes zu einem kurzweiligen Pokerspiel entwickelt.
In Sotschi steht nun vorübergehend der Sport im Vordergrund. Deshalb üben sich alle Beteiligten in verbalen Verrenkungen. Sean Simpson sagt: «Wir arbeiten an einem neuen Vertrag. Aber wir haben für die Dauer des olympischen Turniers eine Verhandlungspause vereinbart».
Sein Agent Dani Giger sagt: «Ich kann dazu keine Auskunft geben.» Verbandsdirektor Ueli Schwarz sagt: «Präsident Marc Furrer und Medienchef Alex Keller sind Auskunftspersonen in der Causa Simpson.» Verbandspräsident Marc Furrer sagt: «Sean Simpson ist ein erfolgreicher Trainer. Ich nehme an, dass er verschiedene Angebote hat.» Verbands-Vizepräsident Pius-David Kuonen, für den Sport zuständig, sagt: «Gerüchte jeglicher Art kommentiere ich nicht.»
Sean Simpson pokert hoch – und die Verbandsgeneräle tun es auch. Verblasst der silberne Glanz von Stockholm in Sotschi, dann wird Sean Simpson Mühe haben, mit unserem Verband den Vertrag in seinem Sinne zu verlängern. Eine Salärerhöhung liegt dann nicht mehr drin. Wenn das WM-Silber in Sotschi hingegen schön aufpoliert wird, kann der Kanadier wohl eine Million brutto fordern – beim Verband, in Mannheim oder in Russland oder sonst wo.