Vielleicht ist doch nicht alles so klar, wie es statistisch scheint. Die ZSC Lions sind zwar in allen wesentlichen Playoff-Statistiken besser als ihr Finalgegner und sie haben die Qualifikation mit 18 Punkten Vorsprung auf Lausanne (3.) gewonnen. Noch Fragen?
Offenbar. Jedenfalls weckt dieser Final Interesse bis an die amerikanische Westküste. Dort lebt Dr. Saul Miller, einer der berühmtesten Sportpsychologen der Welt mit einer langjährigen Beziehung zu unserem Hockey. Es sind nicht nur seine persönlichen Beziehungen zu verschiedenen Exponenten im helvetischen Hockey. Es ist wohl auch so, dass der weise Gelehrte seit Jahren in unserer bunten Liga sportpsychologisches und sonstiges Verhalten fast wie in einem «Laboratorium» erforschen kann. Da er nicht vor Ort sein wird, erkundigt er sich telefonisch nach den Umständen.
Miller fasziniert die Entwicklung in Lausanne. Wie sich hier aus einem Chaos ein Playoff-Finalist entwickelt hat. Wir lernen ja aus der Mythologie, dass sich vermutlich aus ungeordneten Verhältnissen der Kosmos und die Götter entwickelt haben. Noch 1989 darbte Lausanne in der höchsten Amateurliga und die Rückkehr nach ganz oben gelang erst im Frühjahr 2013 auf Kosten von Langnau.
Vier Jahre lang bis zu seinem unfreiwillig-freiwilligen Abschied am 4. November 2022 – die nordamerikanischen Investoren, die ihn ins Amt eingesetzt hatten, stiegen aus – hatte Petr Svoboda Lausanne wie ein Renaissance-Fürst gemanagt. Allmächtiger hat sich in unserem Hockey nie eine Führungspersönlichkeit gebärdet. Im Vergleich zum flamboyanten Tschechen wirkt selbst ein zorniger Marc Lüthi wie ein zur Melancholie neigender Vize-Archivar im Bundesamt für Statistik.
Von der Wahl des Captains bis zu den Umstellungen während eines Spiels (er pflegte mit dem Hosentelefon in der Pause dem Coach seine verbindlichen Anweisungen zu übermitteln) regelte, bestimmte, kommandierte er alles. Aber er kann Hockey. Für Tschechien erzielte er im Olympia-Final 1998 das goldbringende 1:0 gegen die Russen und mit Montréal gewann er den Stanley Cup. Und so hat Svoboda zwar wild und viel zu teuer transferiert. Aber eben doch ein Team zusammengestellt, dessen Potenzial unterschätzt wird.
Seit Petr Svoboda die Stadt verlassen hat, ist Ruhe eingekehrt und eine Mannschaft zusammengewachsen, die zum ersten Mal in der Klubgeschichte (gegründet 1922) in einem Playoff-Final steht. Meister war Lausanne noch nie.
Saul Miller bezeichnet John Fust (52) als Schlüsselfigur bei Lausannes Auferstehung aus dem Chaos. Der kanadisch-schweizerische Doppelbürger ist nach einer respektablen Spieler- und Trainerkarriere (u. a. Langnau, Ambri und Visp) sowie einer Geheimdienst-Ausbildung in der kanadischen Armee am 8. Februar 2018 nach Lausanne gekommen, um bis Ende Saison den gefeuerten Trainer Yves Sarault zu ersetzen.
Seither dient Fust dem Klub, zurzeit als Sportchef. Er ist in unruhigen Zeiten eine Integrationsfigur geworden, hat sich unter dem unberechenbaren Svoboda mit Demut im Amt gehalten und – wenn befohlen – auch den Pizza-Kurier gemacht. Er hat seinen Arbeitgeber vor mancherlei sportlichen Irrtümern und Kalbereien bewahrt.
Dabei kommt ihm zugute, dass er sich schlau im Hintergrund hält und das Scheinwerferlicht nicht braucht. Fust trifft seit dem Wegzug des grossen tschechischen Zampanos die richtigen Entscheidungen. Die wichtigste: Am 6. November 2022 holt er Geoff Ward (62) an die Bande. Die Verpflichtung ist nur möglich, weil der SCB abgesagt und Toni Söderholm als Ersatz für Johan Lundskog angestellt und eine weitere Saison verloren hat.
Der Kanadier Ward ist seit 1989 im Trainerbusiness. Er arbeitete mehr als zehn Jahre auch in der NHL und ist soeben von den Trainern und Captains zum Coach des Jahres gewählt worden. Ein weitgereister, erfahrener, ruhiger Bandengeneral, dessen Charisma in der Bescheidenheit liegt: Ein wenig mahnt er an Inspector Columbo. Er gilt als exzellenter Taktiker und «Bench Coach», der vor dem Spiel die richtige Taktik entwickelt und während des Spiels die richtigen Anpassungen und Umstellungen vornimmt. Er hat im Viertelfinal Josh Holden vom HC Davos und vor allem im Halbfinal Christian Dubé von Fribourg-Gottéron regelrecht ausgecoacht.
Das macht Lausanne für den grossen Sportpsychologen Saul Miller so interessant: Eine aus dem Chaos zusammengewachsene Gruppe junger Männer auf einer Mission, maximal motiviert und kommandiert von einem schlauen Anführer, der bei seinen Untergebenen beliebt ist wie selten ein Trainer im Hockey. Eigentlich die Voraussetzungen, um ein Hockeywunder zu schaffen.
Wenn die ZSC Lions aus ihrer eigenen Geschichte lernen, dann sind sie gewarnt: Lausanne mahnt in vielerlei Hinsicht an die meisterlichen ZSC Lions aus dem Frühjahr 2000. Der ZSC war Zürichs Antwort auf Lausanne: Chaotisch, populär, von finanziellen Sorgen geplagt und immer wieder durch sportliche Dramen erschüttert.
Bis Walter Frey 1997 aus GC und dem ZSC die ZSC Lions schmiedet und Simon Schenk als Integrationsfigur nach Zürich holt. 1998 noch auf dem 10. und zweitletzten Platz der damals 11 Teams umfassenden höchsten Liga (nur Herisau war noch schwächer) gewinnen die ZSC Lions im Frühjahr 2000 im Final gegen den himmelhoch favorisierten Titelverteidiger Lugano die Meisterschaft. Der Qualifikationssieger ist mit vier Siegen hintereinander über Gottéron (4:0) und Ambri (4:0) und einem Torverhältnis von 43:11 in den Final gebraust und unterliegt den vom schlauen Bandengeneral Kent Ruhnke gecoachten Zürchern in sechs Spielen.
Die ZSC Lions hatten im Frühjahr 2000 auf ihrem Weg in den Final nur ein Spiel (im Viertelfinal gegen Davos) verloren. Lausanne ist jetzt den längeren Weg in die finale Entscheidung gegangen (7 Spiele gegen Davos, 5 gegen Gottéron) als die ZSC Lions, die ohne Niederlage mit acht Siegen in Serie in die finale Titelentscheidung vorgerückt sind.
Die Zürcher sind gegen die Bieler und die Zuger, die tief in der Seele schon still resigniert hatten, nie restlos gefordert worden. Etwas polemisch dürfen wir sagen: Für die ZSC Lions beginnen die Playoffs erst am Dienstag mit dem ersten Finalspiel. Gegen einen Widersacher, der rauer, mutiger, hockeytechnisch «böser» und motivierter sein wird als die Bieler und die Zuger.
Lausanne geht «deutschschweizerischer» als jedes Team aus der deutschen Schweiz zur Sache und wird dazu in der Lage sein, im Maschinenraum der ZSC Lions für Ächzen, Quietschen, Knarren und Irritationen zu sorgen. Ja, Lausanne ist die einzige Mannschaft der Liga, die in einem Final überhaupt eine Chance gegen den himmelhohen Favoriten hat.
Um es polemisch auf den Punkt zu bringen: Lausanne hat dann eine Chance, wenn es gelingt, Denis Malgin und Sven Andrighetto zu frustrieren. Lausanne hat sich in den Playoffs bisher viermal mehr Strafminuten pro Partie zuschulden kommen lassen (mehr als 20) als die ZSC Lions (gut 5). Aber übertreiben sollten es die Waadtländer nicht: Die ZSC Lions haben mit Abstand das beste Powerplay eines Finalisten (36 Prozent Erfolgsquote), seit diese Statistik offiziell geführt wird (2009). 2018 sind die Zürcher mit einer Powerplay-Erfolgsquote von 17,54 Prozent Meister geworden.
Aber Statistiken sind in Zeiten der Playoffs nur Zahlen auf dem Papier oder den Bildschirmen der Hosentelefone. Nun spielen die Gunst der Hockeygötter (Glück oder Pech), Leidenschaft, Mut, Furchtlosigkeit, Bravour und Mannhaftigkeit – also all das, was die Seelenforschenden im Sport so fasziniert – eine zentrale Rolle.
Auch deshalb wäre für Saul Miller eine Meisterfeier in Lausanne nicht einmal eine Sensation.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
5,2
09.22
5,2
09.23
5,2
01.24
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
ZSC: 1
Lausanne: 11
Aber ja: das kann in beide Richtungen gehen.
😂😂😂😂😂😂😂
Danke Klaus für diesen Vergleich, einfach nur köstlich…