Sie sind den ganzen Weg von Argentinien nach Bern gereist für nur drei Minuten Redezeit, die Sie an der Generalversammlung der Schweizer Nationalbank (SNB) beanspruchen wollten. Die SNB hat Ihnen den Zugang am Freitag allerdings verwehrt. Sie seien nicht befugt, an der GV zu sprechen. Wie geht es Ihnen nach dieser Nachricht?
Orlando Carriqueo: Ich bin nicht überrascht. Ich habe erwartet, dass man uns keinen Zugang gewähren wird, obwohl wir von der Klimaallianz alle entsprechenden Unterlagen, Bevollmächtigungen und Unterschriften vorweisen konnten.
Was wollten Sie an der GV sagen?
Ich wollte der SNB-Direktion, ihren Aktionären und vor allem auch der Schweizer Bevölkerung klar machen: An den Händen der SNB klebt Blut. Sie ist mitverantwortlich für Menschenrechtsverletzungen, Umweltverschmutzung, irreversible Schäden unserer Natur, für die Klimaerwärmung, für Krankheiten, für den Tod zahlreicher Menschen in Argentinien.
Wie kann das sein?
Dafür muss ich ausholen. Das Vaca-Muerta Becken im Norden Patagoniens, aus dem ich stamme, besitzt das zweitgrösste Schiefergas- und das viertgrösste Schieferölvorkommen der Welt. Um an dieses Erdöl und -gas heranzukommen, bohren Ölkonzerne wie Chevron und Shell Löcher in den Boden und brechen das Schiefergestein auf, indem sie ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien hineinpressen. Fracking nennt sich diese Technik.
Das klingt nicht sehr sicher.
Das ist es auch nicht. Es kommt regelmässig zu Unfällen. Erdöl tritt an die Oberfläche oder Feuer bricht aus, was weite Teile der Natur zerstört, unsere Böden vergiftet. Es kommt auch immer wieder zu Explosionen, durch die Menschen ums Leben kommen. Die Konzerne verbrauchen mit Fracking zudem grosse Mengen unseres Süsswassers, genauer: 100 Millionen Liter Trinkwasser im Monat. Gleichzeitig verschmutzen sie unser Grundwasser, da sie nicht verhindern können, dass ihre toxischen Gemische aus Sand, Wasser und Chemikalien im Boden versickern. Fracking ist zudem regelmässig für Erdbeben verantwortlich.
Und welche Rolle spielt jetzt die SNB bei dieser Zerstörung?
Die SNB ist eine der grössten Aktionärinnen von multinationalen und europäischen Unternehmen, die in Vaca Muerta Fracking betreiben. Damit ist sie mitschuldig an all dem Leid, das uns Mapuche und der Natur in Vaca Muerta angetan wird.
Haben Sie auch schon den direkten Kontakt zur SNB gesucht und sie mit Ihren Vorwürfen konfrontiert?
Ja, vor ein paar Tagen habe ich mich mit Attilio Zanetti, dem Leiter Wirtschaftsanalyse der SNB, und Sophie Faber, die für das globale Risikomanagement verantwortlich ist, getroffen.
Und was ist dabei herausgekommen?
Nicht viel. Ich habe sie gefragt, ob sie in Erwägung ziehen können, künftig zu überprüfen, ob sich die Unternehmen, in die sie investieren, an geltendes Recht halten, ob sie sich der Korruption, der Umweltverschmutzung, der Menschenrechtsverletzungen schuldig machen. Die SNB-Vertreter meinten, sie werden das prüfen. Mehr nicht.
Wie kam diese Antwort bei Ihnen an?
Es war für mich ein Beweis dafür, dass die SNB ihre Augen vor der Realität verschliesst, ihre Verantwortung als Aktionärin nicht wahrnehmen möchte. Dabei könnte sie das. Als Aktionärin kann sie Forderungen stellen. Aber sie will nicht sehen, was mit ihrem Geld angerichtet wird. Sie versteckt sich hinter den Beteuerungen der Unternehmen, dass sie sich nichts zu Schulden kommen lassen. Dabei gibt es Videos, Fotos, wissenschaftliche Studien, Untersuchungen, die das Gegenteil beweisen. Das sind öffentlich zugängliche Informationen. Es kann nicht sein, dass die SNB nicht weiss, welche Zerstörung und Menschenrechtsverletzungen die Unternehmen verursachen, die sie finanziert.
Können Sie genauer ausführen, was Sie mit Menschenrechtsverletzungen meinen?
Ja, dafür muss man aber zuerst verstehen, wer ich bin und woher ich komme. Ich bin kein Aktivist, ich bin kein Politiker, ich bin Mapuche, Teil der indigenen Bevölkerung Argentiniens. Wir leben seit Jahrtausenden im Gebiet des heutigen Chiles und Argentiniens, betreiben Landwirtschaft und Viehzucht. Doch seitdem die Spanier einen Fuss auf Südamerika gesetzt haben, sind wir gezwungen, für das Recht auf unseren Boden, unsere Lebensgrundlage zu kämpfen. Der argentinische Staat hat uns in dieses trockene Gebiet Vaca Muerta vertrieben. Wir sind kein Volk mit einer einzigen übergreifenden Regierung, sondern bestehen aus vielen unabhängigen Gemeinden. Diesen hat der Staat einzelne Territorien in Vaca Muerta zugesprochen, ihnen die Autonomie erteilt. Das Gebiet Vaca Muerta hat bis dahin niemanden interessiert. Doch nachdem man herausgefunden hatte, wie viel Erdöl und Erdgas sich unter uns befinden, gab der Staat Ölfirmen die Erlaubnis auf unseren Territorien zu bohren. Ohne uns vorher zu fragen.
Also wehren sich die Mapuche.
Natürlich. Einige Gemeinden organisieren immer wieder Demonstrationen, auf die der Staat mit Verhaftungen und Gewalt reagiert, wodurch zwei Mapuche bereits ums Leben gekommen sind. Andere haben den Rechtsweg beschritten. Erfolglos. Das sind Zustände wie in einer Diktatur. Das sind Menschenrechtsverletzungen.
Heisst das, alle Unternehmen in Vaca Muerta betreiben widerrechtlich Fracking?
Nein. Sie müssen sich vor Augen führen: Vaca Muerta erstreckt sich über ein Gebiet so gross wie die ganze Schweiz. Nicht all dieser Boden gehört uns Mapuche. Zudem gibt es auch Gemeinden, die es den Ölkonzernen erlaubten, auf ihren Gebieten zu bohren. Man versprach ihnen Arbeitsplätze, Infrastruktur, Wohlstand.
Und wurde dieses Versprechen wenigstens eingehalten?
Nein. Die ersten Bohrungen fanden 2011 statt. Seither habe ich nur eines beobachtet: Ständige Erdbeben, die Risse in unseren Häusern hinterlassen, Wasser, das knapp wird und kaum noch für unsere Landwirtschaft und Tiere ausreicht, weite Flächen, die unfruchtbar geworden sind, Menschen und Tiere, die vom verschmutzten Grundwasser krank werden, plötzlich Mühe haben, zu atmen, genetische Fehlbildungen bekommen, an Krebs erkranken, sterben. Alles wegen des Frackings.
Die Zerstörung der Natur hat aber noch weitreichendere Folgen, richtig?
Allerdings. 2019 fand eine Untersuchung Schwermetalle und Öl in Flüssen, die durch das Vaca Muerta-Gebiet führen. Diese Giftstoffe kommen vom Fracking. Die Flüsse transportieren das toxische Wasser weit über Vaca Muerta hinaus in andere Regionen, deren Ökosysteme davon abhängen. Aber auch Millionen von Menschen südlich von Vaca Muerta trinken, duschen, waschen ihre Wäsche, tränken ihre Felder und Tiere mit dem Wasser dieser Flüsse, die am Ende im Meer oder sogar in Nationalparks münden. Obendrauf kommen die Auswirkungen auf den globalen Klimawandel. Fracking setzt enorm viel CO2 frei, das die globale Erwärmung befeuert.
Wie kann es sein, dass die SNB solche Firmen mit unserem Geld unterstützt?
Diese Frage stelle ich mir auch immer wieder. Wie kann es sein, dass ein Land, das an jeder Ecke einen Abfallkübel stehen hat, das es unter Strafe stellt, eine Plastikflasche einfach auf den Boden zu werfen, es erlaubt, dass eine Fläche so gross wie es selbst komplett verschmutzt und zerstört wird? Wie kann es sein, dass die Nationalbank eines Landes, das sich selbst als Volk von Bauern präsentiert, finanziell unterstützt, dass Bauern in Argentinien ihre Lebensgrundlage verlieren? Wie kann die Schweiz, die so stolz auf ihre sauberen Seen und Flüsse ist, es zulassen, dass mit dem Geld ihrer Bürgerinnen und Bürger in Argentinien Seen und Flüsse vergiftet werden?
Ist es schwer für Sie, diesen Kontrast zwischen Vaca Muerta und Bern zu sehen?
Nun, ich bin froh, dass nicht auf der ganzen Welt eine Zerstörung wie bei uns voranschreitet. Aber gleichzeitig führt mir dieser Kontrast vor Augen, dass wir uns noch immer in kolonialen Strukturen befinden. Europa profitiert, wird mit unserem Boden reich, während wir leiden und sterben. Und das passiert ja nicht nur uns Mapuche in Argentinien. Das passiert überall im globalen Süden, in ganz Amerika, in Afrika, in Asien. Das ist Kolonialismus!
Ist die Schweiz aus Ihrer Sicht damit auch eine Kolonialmacht?
Ja. Aber ich mache der Schweizer Bevölkerung keinen Vorwurf. Man kann nicht über alles informiert sein. Aber genau darum wollte ich eben an der Generalversammlung der SNB sprechen. Ich hatte die Hoffnung, dass ich wenigstens die Schweizer Bevölkerung erreichen könnte. Denn sie könnte eine Veränderung bewirken. Sie könnte Druck auf die SNB und die Politik machen. Oder auch eine Volksinitiative starten, welche es der SNB verbieten würde, Investitionen in menschen- und umweltverachtende Unternehmen zu tätigen.
Gäbe sicher anderes wo man investieren könnte.