SCB-Strategiepapier? Ja, das gibt es. Alle zwei Jahre überarbeitet das grösste Hockey-Unternehmen Europas seine sportliche Strategie und hält die gewonnenen Erkenntnisse fein säuberlich schriftlich fest. Zuletzt in diesem heissen Sommer 2018. SCB-Manager Marc Lüthi sagt: «Was heisst hier Papier? Es ist inzwischen ein ganzes Buch ...» Leider ist es weder im Buchhandel noch auf Amazon erhältlich.
Die grosse strategische Linie in dieser SCB-Gebrauchsanleitung in ein paar Strichen gezeichnet: die Schweizer und nicht mehr die Ausländer sollen die Mannschaft prägen. Deshalb wird versucht, die helvetischen Stars mit langen Verträgen zu binden.
Die Umsetzung ist anfänglich ja ganz gut gelaufen. Captain Simon Moser (29) hat bis 2023 unterschrieben, Ramon Untersander (27) bis 2022. Eric Blum (32) hat sich bis 2022 zum SCB bekannt, Tristan Scherwey (27) bis 2020 und Thomas Rüfenacht (33) bis 2020. In allen Fällen ist es gelungen, das Arbeitsverhältnis so früh zu prolongieren, dass gar nicht erst ein Transferspektakel entstehen konnte. Das gibt Planungssicherheit. Wirtschaftlich und sportlich.
Die Krönung dieser Strategie hätte nun die vorzeitige fünfjährige Vertragsverlängerung mit Leonardo Genoni werden sollen. Obwohl das Arbeitsverhältnis erst im nächsten Frühjahr ausläuft, hatte Sportchef Alex Chatelain schon im Sommer 2017 (!) einen Anlauf zur vorzeitigen Verlängerung unternommen. Umsonst.
Schliesslich wurde diese Personalie zur Chefsache erklärt und nicht der Sportabteilung überlassen. Marc Lüthi hatte sich ausnahmsweise persönlich in Transfer-Verhandlungen eingeschaltet, seinem Torhüter die langfristige Strategie erklärt und ihm so die enorme Wichtigkeit seiner Rolle im SCB-Universum signalisiert. Das mag der SCB-Manager und -Mitbesitzer zwar so nicht bestätigen, gibt aber zu: «Ja, ich habe mit ihm gesprochen.» Ist ja auch logisch. Wer den Besten der Besten an sein Hockeyunternehmen binden will, muss den Höchsten der Hohen an den Verhandlungstisch schicken.
Es hat nichts genützt. Leonardo Genoni wechselt Ende Saison mit einem Fünfjahreskontrakt nach Zug. Nun muss der SCB erstmals in seiner Geschichte auf der wichtigsten Einzelposition an die Verpflichtung eines Ausländers denken. Das Strategiepapier verkommt Makulatur.
Leonardo Genoni versichert zwar glaubhaft, dass Geld bei seiner Entscheidung gegen den SCB und für Zug keine Rolle gespielt habe. Aber es ist, wie es ist: der SCB kann nicht mehr Geld ausgeben, als eingenommen wird. Die Zuger hingegen schon. Ihr Präsident Hans-Peter Strebel ist Milliardär und seine Bewunderer raunen, alleine seine Yacht koste mehr als ein SCB-Jahresbudget in der Höhe von fast 60 Millionen. Item, der SCB hat in diesem Transfergeschäft den Kürzeren gezogen.
Inzwischen hat bereits die nächste Runde im «Big Business» und die sportliche Dominanz der nächsten Jahre begonnen. Es geht um Enzo Corvi (25). Einen weiteren WM-Silberhelden. Sein Vertrag läuft im nächsten Frühjahr aus. Der Center würde perfekt zum SCB passen und seine Verpflichtung wäre ein Signal der Stärke. Zumal nach wie vor nicht ausgeschlossen werden kann, dass Gaëtan Haas, auch ein WM-Silberheld, im nächsten Sommer nach Nordamerika zügeln wird.
Wie nervös die Berner sind, zeigt sich in diesen Tagen beim tüchtigen Sportchef Alex Chatelain. Eigentlich ist ein freundliches Lächeln bei Fragen nach Gängen und Läufen im SCB-Transfergeschäft die leidenschaftlichste Gefühlsregung des sportlichen SCB-Bürogenerals. Doch auf die Frage, wie gut er in der «Causa Corvi» vorankommen, entgegnet er nun ungewohnt knurrig: «Wir kommentieren keine Spekulationen.»
Zugs Sportchef Reto Kläy reagiert da schon cooler. Er bestätigt ganz offiziell: «Ja klar, wir sind an Corvi interessiert. Es wäre unprofessionell, nicht interessiert zu sein.» Die Nähe zu Corvis Agenten Daniel Giger, dessen Firma «4 Sports» im Zuger Hockeytempel eine Loge unterhält, ist sicherlich kein Nachteil. Gelingt es Reto Kläy, nach Leonardo Genoni auch noch den wohl besten Schweizer Center zu verpflichten, dann wird der EV Zug nächste Saison definitiv ein meisterlicher Titan.
Aber an Enzo Corvi sind auch die ZSC Lions und Lugano interessiert. Wie in Zug sichern auch da präsidiale Milliardenvermögen die Wirtschaftskraft ab. ZSC-Obmann Walter Frey ist Multimilliardär, Luganos Frontfrau Vicky Mantegazza Multimilliardärin.
Oder gelingt es am Ende dem HC Davos Enzo Corvi zu halten und damit den beunruhigenden «Talent Drain» der jüngsten Zeit endlich zu stoppen? Der HCD hat in den letzten drei Jahren fast so viele wichtige Spieler verloren wie zuvor während der 20 Jahren seit dem Wiederaufstieg von 1994: Unter anderem haben die Davoser seit der letzten Meisterfeier von 2015 durch Rücktritt oder Abwanderung ins Flachland verabschiedet: Leonardo Genoni, Reto und Jan von Arx, Beat Forster, Simon Kindschi, Noah Schneeberger, Samuel Guerra, Mauro Jörg, Dario Simion, Samuel Walser, Grégory Hofmann und Gregory Sciaroni.
Die Nervosität ist auch in Davos gross. Trainer und Sportchef Arno Del Curto sagt: «Da muss jetzt der Präsident verhandeln. Ich sage gar nichts mehr.» Nur in ganz wichtigen Angelegenheiten kümmert sich der HCD-Vorsitzende Gaudenz Domenig ums Tagesgeschäft. Der erfolgreiche Wirtschaftsanwalt ist zwar kein Milliardär. Aber er kann, wenn es denn wichtig ist, eine einflussreiche Männerrunde mit abgeschlossener Vermögensbildung und direkten Beziehungen in den Vatikan mobilisieren. So hat er einst den HCD saniert und wieder auf meisterliche Stärke gebracht. Voller Ehrfurcht erzählen Kenner, einem dieser diskreten HCD-Freunde lasse der Papst jeweils persönlich die allerbesten Glückwünsche zum Geburtstag ausrichten.
Die Fälle Leonardo Genoni und Enzo Corvi sind viel mehr als einfach spektakuläre Transfergeschäfte. Es geht im Spätsommer und Herbst 2018 um die Ausgestaltung der sportlichen Machtverhältnisse in unserem Hockeybusiness für die kommenden fünf bis zehn Jahre.
Marc Lüthi konnte sich bisher gewitzt und klug wirtschaftlich und sportlich im nationalen Hockeygeschäft behauptet. Der SCB hat unter seiner Leitung in diesem Jahrhundert immer schwarze Zahlen geschrieben und 2004, 2010, 2013, 2016 und 2017 die Meisterschaft gewonnen.
Aber immer mehr findet er sich in der gleichen Rolle wieder wie Asterix, der in alten Zeit sein gallisches Dorf gegen das mächtige römische Imperium zu verteidigen wusste. Marc Lüthi muss sein Geld im Hockey- und Gastronomie-Business erwirtschaften. Spendable Milliardäre und Milliardärinnen gibt es im SCB-Umfeld keine, die mit einem «Zustupf» einem Transfergeschäft die gewünschte Richtung geben können. Männer mit einem direkten Draht zum Papst im reformierten Bern auch nicht.
Bald einmal kann der Kantonsrivale Biel dem SCB im Hockeybusiness auf Augenhöhe entgegentreten. Mit den Transfers von Jonas Hiller (36), Damien Riat (21), Damien Brunner (32) und Jason Fuchs (22) ist Biel inzwischen auf dem Papier dem SCB sportlich bedrohlich nahegekommen.
Und der SCB hatte bei der Rückkehr von Joël Vermin (26) und Christoph Bertschy (24) aus Nordamerika gegen Lausanne keine Chance. Auch dort ist der Teambesitzer (der Amerikaner Ken Stickney) ein Milliardär. Ach, wie viel besser wären die SCB-Perspektiven, wenn es wenigstens gelungen wäre, die beiden eigenen Junioren (!) wieder nach Bern zu holen!
Wir werden gerade Zeitzeugen des Beginns eines neuen, aufregenden Kapitels unseres Klubhockeys. Titel: SCB-Asterix Marc Lüthi und die Milliardäre.