Die Anfrage irritiert mich. Ein alter Kollege fragt, ob er mit mir nach Zürich zum Spiel der ZSC Lions gegen Lausanne mitfahren könne. Na klar. Aber das geht doch nicht. Woher hast du die Tickets? «Ganz normal übers Internet gekauft». Die alte Normalität. Ein Ticket einfach so kaufen. Nun wird mir klar: das Hallenstadion hatte ja schon immer 11'200 nummerierte Sitzplätze. Nun reicht das Fassungsvermögen auch bei eingeschränkter Kapazität für alle Saisonkartenbesitzer und zusätzlich sind noch Tickets im Einzelverkauf zu haben.
Die Eingangskontrolle mit Registrierung und personifiziertem Ticket läuft so wie bei allen anderen Stadien auch. Die Organisation ist perfekt. Keine Warteschlangen. Kein Gedränge. Und alle halten sich an die Maskenpflicht. So weit, so gut. So ist es eigentlich überall.
Und dann beginnt eine Reise zurück in die Welt, wie sie einmal war. In eine Oase der Normalität auf höchstem Niveau. Würden die Besucherinnen und Besucher nicht Masken tragen und hätte es auf dem Boden nicht aufgemalte Füsse zur Abstandskontrolle, so könnte ich die Virus-Krise im Hallenstadion vergessen. Maskenpflicht während eines Eishockeyspiels im Hallenstadion ist ein wenig wie Maskenpflicht beim Wiener Opernball.
Die Einschränkungen – nur Sitzplätze und davon dürfen bloss zwei Drittel benützt werden – haben allen anderen Hockey-Tempeln die Emotionen entzogen. Am schlimmsten ist die «Kastration» beim SC Bern. Nur noch 6750 Plätze bei einem Fassungsvermögen von 17'031. Und es kommen nicht einmal 6750. Aber im Hallenstadion ist die Stimmung so wie immer. Ob tatsächlich 7180 wie gemeldet da sind, ist optisch unerheblich. Die Sitze im Hallenstadion sind schwarz eingefärbt. Sie bilden einen dunklen Hintergrund und wenn das Eis in gleissendes Scheinwerferlicht getaucht wird, ist anders als in anderen Stadien, nicht mehr zu erkennen, wie viele Sitze leer sind.
In keiner anderen Arena ist die Akustik so gut. Die Geräuschkulisse, der Applaus «füllen» die Arena. Ob 4000 oder 7000 da sind, war schon früher für die Stimmung unerheblich und ist es auch jetzt. Eishockey im Hallenstadion war während der Qualifikation auf der Skala der Emotionen schon immer näher am Zürcher Opernhaus als an der Valascia oder dem Berner Hockeytempel. Eishockey als gepflegte Abendunterhaltung. «Elektrisierend» ist die Stimmung im Hallenstadion erst in den Playoffs.
Würden die Besucherinnen und Besucher keine Masken tragen, dann wäre alles so, wie es schon immer war. Oder fast alles: Während der Pause ist es ruhiger. Fast so ruhig wie im Opernhaus. Es scheint, als ob alle ein bisschen weniger schnell laufen. Hektik gibt es keine. Gekommen sind die wahren Hockeyliebhaber. Fast scheint es, als ob alle Sorge tragen, dass ja nichts passiert, was dazu führen könnte, dass das Publikum ausgesperrt wird. Als sei das Glück, in diesen Zeiten ein Hockeyspiel live im Stadion erleben zu dürfen zerbrechlich wie Glas.
Die ZSC Lions sind «Krisengewinnler»: Sie und nicht mehr der SCB mobilisieren nun erstmals seit Einführung der Playoffs (1986) am meisten Zuschauer. Nur im Hallenstadion ist das Erlebnis Eishockey so wie vor der Virus-Krise. Und sportlich sind die Zürcher drauf und dran, die Liga mit einer «Hockey-Maschine» zu dominieren.
In der Gesamtsumme hat Lausanne nicht weniger Talent als die ZSC Lions. Und ist im Schlussdrittel doch chancenlos. Die Zürcher spielen in der zweiten Saison unter Rikard Grönborg nicht mehr ganz so wild und ungestüm vorwärts wie im letzten Herbst. Aber noch schneller und präziser. Mit der Systemsicherheit kommt eine Gelassenheit, die dem Spiel etwas «maschinelles» gibt: Die ZSC Lions als grosse, mächtige Hockeymaschine, die jeden Gegner zu überrollen vermag. Gebaut, um Meister zu werden. Nicht um in der Qualifikation die Lakers oder Servette vom Eis zu fegen.
Die Schwäche dieser Stärke sind eine gewisse Berechenbarkeit und im Wissen um die eigenen Qualitäten eine Neigung zur Überheblichkeit. Diese Überheblichkeit wird diese Saison die grösste Herausforderung für Trainer Rikard Grönborg sein.
Wer sein Spiel gut organisiert, kann im Herbst gegen die ZSC Lions noch gut mithalten. Die Zürcher spielen zurzeit höchstens 70 Prozent ihres Potenzials aus. Aber auch so wird jedes Nachlassen der Konzentration und der Kräfte unerbittlich bestraft. Nach zwei Dritteln steht es 1:1 und jeder Ausgang scheint möglich. Ja, Lausanne ist eine Spur kreativer, unberechenbarer. Und dann fällt die Entscheidung durch das hockeytechnisch beste Tor der noch jungen Saison: Garret Roe hat sich in den Rücken der gegnerischen Verteidiger «geschlichen» und hat auf der blauen Linie freie Fahrt. Sven Andrighetto erfasst die Situation blitzschnell und spielt mit einem Steilpass die Scheibe dem Amerikaner auf den Stock – und der zieht allein los und bezwingt den starken Tobias Stephan zum 2:1. Von diesem Schock wird sich Lausanne nicht mehr erholen.
Die sportliche Erkenntnis aus diesem Spiel: Sven Andrighetto, der teuerste Schweizer Spieler der ZSC-Geschichte, ist sein Geld wert und trägt bereits das Ehrengewand des Topskorers (5 Spiele/6 Punkte). Er bildet mit Garret Roe ein Duo, das in den Playoffs den Titelkampf entscheiden wird. Wenn es denn die Umstände erlauben, die Saison bis im Frühjahr fortzusetzen und die Playoffs zu spielen. Es gibt Grund zur Hoffnung: Die Hockey-Götter werden es nicht zulassen, dass die ZSC Lions im April 2021 zum zweiten Mal hintereinander durch äussere Umstände um den Titel gebracht werden.
In der Halle war ich diese Saison noch nicht, aber ich gehe zum Auswärtsspiel in Ambri in zwei Wochen, mal sehen wie da die Stimmung ist in diesen komischen Zeiten.
Und ganz ehrlich: Spiele, zu denen nur noch die Hockeyliebhaber kommen, sind mir als Hockeyliebhaber lieber, als solche, bei denen der Abend im immer gleichlangweiligen Getrommle der bierseeligen Ultras untergeht.