Die Eisenbahn liefert einen Begriff, der gut zum SC Bern passt: «Bauen unter dem rollenden Rad.» Eine Strecke oder einen Bahnhof sanieren, ohne den täglichen Eisenbahnverkehr zu beeinträchtigen. Ein aufwändiges, schwieriges und komplexes Verfahren. Der SC Bern versucht seit der letzten Meisterfeier (2019) genau dies: «Bauen unter dem rollenden Rad.» Also den Bau einer neuen Spitzenmannschaft, ohne dass dabei der sportliche Alltag zu stark beeinträchtigt wird.
Was bei der Eisenbahn möglich ist, gelingt im Sport selten. Die Erneuerung eines Spitzenteams ist oft ohne langanhaltende sportliche Baisse fast unmöglich. Lugano wartet beispielsweise seit 2006 auf den nächsten Titel, hat aber immerhin 2016 und 2018 den Final erreicht. Gottéron stürmte 1992, 1993 und 1994 in den Final und musste sich 19 Jahre – bis 2013 – bis zum nächsten Final gedulden. Nun hofft Gottéron auf den ersten Titel.
In der Regel wird den Klubs vom Publikum, den Investoren und wohlwollenden Chronistinnen und Chronisten eine längere Atempause gewährt. Biel ist diese Saison dafür ein gutes Beispiel. Auch Davos oder Zug wird eine «Sanierungsphase» zugestanden. Aber nicht dem SC Bern. Wie bei Bayern München gilt in Bern: Wir sind erfolgreich, also sind wir. Geht der Erfolg, kommt die Kritik oder gar die Polemik und die Zuschauerzahlen sinken.
In Biel ist die Stadionauslastung aktuell höher (96,70 Prozent) als in der letzten, der erfolgreichsten Saison seit dem Wiederaufstieg (89,05 Prozent). Auch in Zug kommen in der laufenden Qualifikation mehr Fans (97,43 Prozent Stadionauslastung) als während der letzten Meistersaison (93,16 Prozent). In Davos eilen diese Saison durchschnittlich mehr Frauen, Männer und Kinder ins Stadion (4943) als während der letzten Meistersaison (4763) und beim Spengler Cup waren alle Spiele ausverkauft. In Bern ist der Rückgang hingegen unübersehbar: von 95,65 Prozent in der Meistersaison 2018/19 auf aktuell 90,54 Prozent.
Nach den Irrungen und Wirrungen mit mehreren Operetten-Trainern hat der SCB im Sommer einen der charismatischsten Bandengeneräle ausserhalb der NHL mit der sportlichen Sanierung beauftragt: Jussi Tapola (49), seit 2009 in Finnland neunmal im Playoff-Final, viermal Meister und letzte Saison auch noch Gewinner der Champions Hockey League.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
5,2
09.22
5,2
09.23
5,2
01.24
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Der SCB hat erstmals seit Kari Jalonen wieder einen richtigen Trainer. Und tatsächlich hat Jussi Tapola ein Wunder vollbracht: Bei «rollendem Rad», bei laufender Sanierung, hält er den SCB konstant in den ersten sechs Rängen und die erstmalige Direktqualifikation für die Playoffs seit 2019 ist fast erreicht. Unter schwierigsten Bedingungen: Die Hektik auf der «Baustelle SCB» ist nämlich nach wie vor gross: Kein anderer Klub hat während der Saison so viel Personal ausgetauscht: Gegangen und wieder zurückgekehrt ist Julius Honka, gegangen sind Mika Henauer, Jesse Zgraggen und Martin Frk und gekommen sind Marco Maurer, Joona Luoto, Simon Kindschi und Ville Pokka. Während der laufenden Meisterschaft hat auch noch der Sportchef seinen Job verloren: Andrew Ebbet muss Ende Saison gehen.
Unter diesen Umständen eine Mannschaft auf Kurs zu halten, ist mindestens so schwierig, wie während des Umbaus des Bahnhofes Langenthal oder Herzogenbuchsee den pünktlichen Bahnverkehr zu garantieren. Jussi Tapola ist fast am Ziel. Aber nur fast. Auf der Zielgeraden, nach 47 von 52 Partien, droht dem SCB der Sprit auszugehen. Noch stehen die Berner auf Rang 6. Aber nach Verlustpunkten nur auf dem 7. Platz.
Aus den letzten Partien gegen Zug (a), Servette (h), Ajoie (a), Lausanne (h) und Gottéron (a) brauchen sie wahrscheinlich 9 Punkte, um den 6. Platz zu halten.
Was ist passiert? Jussi Tapola hat den SCB recht souverän durch die Qualifikation «gemauert». Defensives Hockey ist ein heikler, anspruchsvoller Balance-Akt zwischen Passivität und Aggressivität. Gelingt dieser Balance-Akt, steht am Ende dieser Entwicklung eigentlich der nächste SCB-Titel. In den letzten Spielen ist eine zunehmende Passivität zu beobachten, die zu den Niederlagen in Langnau (1:2), in Zürich (1:4) und gegen Ambri (4:5 n. V.) geführt hat.
Am Stuhl des berühmten Trainers wagt keiner zu sägen. Aber was auffällt: Die Alphatiere – Captain Simon Moser (34), Kultstürmer Tristan Scherwey (32) und Verteidigungsminister Ramon Untersander (33) – sind in den letzten Partien fast nur noch Karikaturen ihrer besten Tage: Moser hat seit 23 Spielen kein Tor mehr erzielt, Scherwey noch eines in den letzten 14 Partien und Untersander wartet seit 7 Runden auf den nächsten Treffer. Pech? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Jussi Tapola fordert unabhängig von Pass, Namen, Salär, politischem Einfluss und Verdiensten aus der Vergangenheit maximale Leistung. Bei ihm sind Namen nur aufs Leibchen genähte Buchstaben. In Tampere hat er vor drei Jahren den Machtkampf mit den damaligen Alphatieren Kristian Kuusela (38) und Captain Jukka Peltola (34) gewonnen, anschliessend die Liga erneut gerockt (Meister 2022 und 2023) plus Europa erobert (Champions League 2023).
In Bern aber sind die Alphatiere seit Anbeginn der Zeit (1931) in der Kabine mächtiger als der Trainer. Hat Jussi Tapola in Bern den gleichen Rückhalt beim Management wie bei Tappara Tampere, dann kann er sich so durchsetzen wie bei Tappara Tampere und dann müsste am Ende dieser Entwicklung eigentlich der nächste SCB-Titel stehen. Unabhängig davon, ob der SCB diese Saison die direkte Playoff-Qualifikation schafft oder nicht.
Das sagt genauso viel aus wie
"So gut war Ajoie seit dem Aufstieg noch nie".