Der Tod des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny im Straflager am vergangenem Freitag hat internationale Betroffenheit ausgelöst. Während in der westlichen Welt Politiker und Prominente ihre Bestürzung äusserten und Kritik in Richtung Wladimir Putin schickten, blieben viele prominente russischen Stimmen stumm. Eine der wenigen Ausnahmen war der frühere sowjetische Schachweltmeister Garri Kasparow, der schon lange einer der lautesten Putin-Kritiker ist, und Daria Kasatkina.
Daria Kasatkina, reposting from Navalny’s widow, remains the bravest voice in tennis right now. pic.twitter.com/xBYNX45q31
— Ben Rothenberg (@BenRothenberg) February 19, 2024
Die russische Tennisspielerin bekundete in ihren sozialen Medien Unterstützung für Nawalnys Witwe Julia Nawalnaja und ist damit eine der prominentesten russischen Stimmen, die sich gegen Putin stellt.
Daria, genannt Dasha, Kasatkina ist Russlands beste Tennisspielerin. Aktuell ist die 26-Jährige die Nummer 13 der Welt und hat in ihrer Karriere schon sechs WTA-Titel gewonnen. 1997 wurde sie in Toljatti, rund 800 Kilometer südöstlich von Moskau, geboren. Einst mit den Lada-Autowerken eine florierende Industrie, wurde die Stadt nach dem Kollaps der Sowjetunion von Bandenkriminalität und Drogenproblemen in eine Krise gestürzt. Über ihren älteren Bruder kam Kasatkina zum Tennis. Als sie zwölf Jahre alt war, verkauften ihre Eltern ihr Haus in Toljatti, um die Tenniskarriere der Tochter unterstützen zu können. «Es war hart zu realisieren, dass deine Eltern ihre Träume aufgeben, um deine eigenen zu ermöglichen», sagte die Russin in der Retrospektive.
Dashas Träume gehen in Erfüllung. Seit 2013 ist sie als Tennisprofi unterwegs, seit 2021 ist sie nicht mehr aus der Top-30 der Weltrangliste gefallen und sogar oft unter den besten Zehn im WTA-Ranking. Sie ist eine der besten Tennisspielerinnen der Welt und damit in Russland, wo der Sport sehr beliebt ist, auch äusserst bekannt.
Diese Plattform nutzt Kasatkina, um auf Dinge aufmerksam zu machen, die sie beschäftigen. Im Sommer 2022 sprach sie in einem Interview mit dem russischen YouTuber Witjia Krawtschenko unter anderem den Krieg in der Ukraine an. Diesen bezeichnete sie als «ausgewachsenen Albtraum» und erklärte, dass sie sich nichts mehr wünsche, als dass die Kämpfe sofort aufhören. «Ich will gegen Gegnerinnen spielen können, die keine Angst haben müssen, dass ihre Tennisplätze, ihr Zuhause zerbombt werden.»
Als machten sie solche Aussagen in ihrem Heimatland nicht schon genug zu einer Zielscheibe, outete die Russin sich im gleichen Gespräch auch noch als homosexuell. Sie machte ihre Beziehung mit der russisch-estnischen Eiskunstläuferin Natalja Sabijako öffentlich. «Für junge Menschen, die mit Problemen in der Öffentlichkeit konfrontiert werden, ist es sehr wichtig, wenn Sportler oder andere bekannte Persönlichkeiten darüber reden», war Kasatkinas Erklärung für diesen Schritt.
Es ging der jungen Tennisspielerin aber auch darum, sich nicht mehr verstecken zu müssen. Sie schilderte die Jahre, in denen sie das noch getan habe, als schwierigste Zeit in ihrem Leben. Die Karriere hatte gelitten: «Ich wollte aufhören, hatte keine Energie mehr und kam nicht aus dem Bett.» Erst als sie sich psychologische Hilfe holte, dämmerte Kasatkina, was sie zu tun hat: «Mit sich selbst im Reinen zu sein, ist das Wichtigste im Leben. Scheiss auf alles andere.»
Das ist auch die Motivation hinter ihrer öffentlichen Unterstützung für die Ukraine. Sie wolle sich selbst im Spiegel anschauen können, ohne sich zu schämen, erklärte die Russin. Für ukrainische Spielerinnen und Spieler auf der Tour empfindet sie grosses Mitleid, da deren Heimat immer mehr zerstört werde: «Ich weiss, wie wichtig es ist, ein Zuhause zu haben. Ein Ort, wo es egal ist, dass du scheisse Tennis spielst oder dich gerade von deinem Freund oder deiner Freundin getrennt hast.»
Ironischerweise haben ihre Aussagen dafür gesorgt, dass auch Kasatkina mittlerweile quasi heimatlos ist. Eine Rückkehr nach Russland ist als öffentlich lesbische Frau und Kriegskritikerin ausgeschlossen. Wenn sie nicht von Turnier zu Turnier reist, ist die 26-Jährige mit ihrer Partnerin mittlerweile in Barcelona und Dubai zu Hause. Ein russischer Politiker wollte ihr gar offiziell den Status als «ausländische Agentin» verpassen, womit Dasha offiziell von der Regierung verfolgt worden wäre. Ihr Agent John Morris glaubt, dass die Tennisspielerin ausserhalb Russlands sicher sei. Trotzdem achte das Team darauf, keine Flüge zu buchen, die zu nahe an den russischen Luftraum kommen.
Auch Kasatkina war klar, was dieser Schritt bedeutete: «Ich musste natürlich mit Konsequenzen rechnen. Aber ich bereue meine Aussagen nicht ein Prozent. Ich konnte nicht still sein und so tun, als wäre alles ok.» Am meisten Sorgen habe sie sich um ihre Eltern gemacht, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und mangelnder Sprachkenntnisse Russland nicht haben verlassen wollen und immer noch dort leben. «Aber es geht ihnen gut und sie sind stolz auf mich», sagte die Weltnummer 13. Und: «Wenn es bedeutet, dass ich mein Zuhause opfern muss, um ein guter Mensch zu sein, dann ist das meine Entscheidung.»
Die negativen Auswirkungen des Krieges bekommt die Russin teilweise unverschuldet zu spüren – insbesondere wenn sie auf Ukrainerinnen trifft. Eigentlich tritt sie bei Turnieren schon längst nicht mehr als Russin an. Nach der Invasion in der Ukraine hat die WTA-Tour beschlossen, dass Spielerinnen aus Russland und Belarus nur unter neutraler Flagge weiterspielen dürfen. Kasatkina meinte vor dem Start der aktuellen Saison scherzhaft: «Ich könnte ja mal bei der WTA anfragen, ob ich unter der Regenbogenflagge spielen darf.»
Trotzdem verweigern die Ukrainerinnen russischen Gegnerinnen geschlossen den Handschlag nach dem Spiel, um ein Zeichen zu setzen. Kasatkina zeigte Verständnis: «Natürlich haben die Spielerinnen aus der Ukraine eine Menge Gründe, uns nicht die Hand zu geben. Ich akzeptiere das und es ist, wie es ist. Es ist eine sehr traurige Situation.» Trotzdem wurde sie nach der Achtelfinalniederlage gegen die Ukrainerin Elina Svitolina am letztjährigen French Open vom Publikum in Paris ausgebuht, als sie sich ohne Handschlag verabschiedete.
«Ich verlasse Paris mit einem bitteren Gefühl», schrieb sie nach diesem Vorfall. Sie sei ausgebuht worden, weil sie die Entscheidung ihrer Gegnerin respektiert habe. Kasatkina forderte das Publikum auf: «Seid besser, liebt einander. Verbreitet keinen Hass. Versucht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.»
Dass es auch anders ginge, erfuhr die Russin wenige Wochen später in Eastbourne. Beim Rasenturnier im Süden Englands wurde sie von einem ukrainischen Fan aufgehalten. Es kam nicht etwa zu einer Konfrontation, sondern zu einer Danksagung, der Bitte um ein Foto und am Ende zu einer langen Umarmung zwischen Kasatkina und dem Fan.
Überhaupt betont die Tennisspielerin immer wieder, wie viele positive Reaktionen sie seit dem Sommer 2022 erhalten habe – zu ihren Aussagen über Russland, aber auch zu ihrem Coming-out. Mittlerweile scheut sich die 26-Jährige kein bisschen mehr, ihre Meinung kundzutun. Auf YouTube produziert sie gemeinsam mit ihrer Partnerin wöchentliche Videos, in denen sie die Zuschauer hinter die Kulisse des Tenniszirkus mit seinen Sonnen- und Schattenseiten blicken lässt. Kasatkina kritisiert die WTA- und ATP-Tour lautstark für die Ansetzung der Spiele an gewissen Turnieren, die zur Folge hat, dass Spielerinnen und Spieler manchmal um drei Uhr morgens noch im Einsatz stehen. Sie hinterfragt, dass ATP-Star Alexander Zverev vom Weltverband weiter vermarktet wird, obwohl er in Deutschland wegen Anschuldigungen der häuslichen Gewalt vor Gericht steht.
Und Daria Kasatkina wird auch weiterhin ihre Plattform nutzen, um auf die Schrecken des Krieges in der Ukraine und die Missstände in Russland aufmerksam zu machen: «Ich werde nie sagen, dass Sport und Politik getrennt werden müssen, wir wissen alle, dass das stark vermischt ist. Und ich hoffe, dass Mitglieder der LGBTQ-Community eines Tages in Russland ohne Angst leben können.»