Vergessen wir für einmal die Tabellenlage. Betrachten wir ein Spiel so, als wüssten wir nicht um die Dramatik der Gegenwart und die Polemik um den meisterlichen SCB. Geniessen wir einfach das ultimative Gipfeltreffen zwischen den zwei Titanen, die sieben der letzten acht Meisterschaften gewonnen haben.
Es ist ein Kampf der Kulturen. Der SC Bern lässt das Hockey der 1970er Jahre wieder aufleben: Leidenschaftlich, manchmal wild und ohne taktische Schablonen.
So war unser Hockey, als der SC Langnau und der SCB die letzten Meister mit einem Spielertrainer (Jean Cusson, Paul-André Cadieux) waren. Und nicht mit Taktik triumphierten. Sondern mit einer charismatischen Mischung aus Talent, Kraft, Wucht, Willen und Leidenschaft.
Heute gibt es eine solche Mischung nicht mehr. Zu gut werden die Spieler taktisch geschult. Und je besser die Trainer, je gründlicher die taktische Ausbildung, je besser die Ordnung auf dem Eis, desto weniger 1970er-Hockey.
Beim SCB gibt es diese taktische Schulung seit mehr als einem Jahr, seit dem 28. Januar 2020, seit der Entlassung von Kari Jalonen nicht mehr. Das ist gut so. Nun sind die Berner zurückgekehrt zum wilden Hockey der 1970er Jahre.
Wer mag, kann beim SCB viel kritisieren. Nur eines nicht: den Willen, die Leidenschaft der Spieler. Die Leistungskultur ist intakt geblieben.
Und so sind die nach wie vor meisterlichen Berner erneut wild entschlossen gegen das gut organisierte Kollektiv der Zürcher angestürmt. Sie können ihren Kompass erneut nach dem gut strukturierten Spiel ihres Gegners ausrichten.
Wenn es den Bernern gelingt, ein überlegenes gegnerisches Verteidigungs-Dispositiv zu erstürmen, ist die Überraschung möglich. Das wilde Eishockey von vorgestern gegen das moderne Hockey von heute. Ein Kampf der Kulturen. Aber die tapferen Nachfahren von Adrian von Bubenberg finden die Lücke nicht immer so wie einst die Eidgenossen zu Sempach. Sie haben keinen offensiven Winkelried.
Gestern sind die Zürcher ob dem Ansturm der Berner ins Wanken geraten. Bei Spielmitte steht es 2:1 für den Meister. Vor dem letzten Drittel lebt die Hoffnung des Tabellenletzten immer noch: 2:2 bei 26:19 Torschüssen.
Und dann beschliessen die ZSC Lions, das Spiel zu gewinnen und drücken aufs Gaspedal. Auf einmal ist jenes Tempo im Spiel, das modernes Hockey auszeichnet: schnelle, präzise Pässe und alle in stetiger Bewegung. Die Auseinandersetzung zwischen dem Spiel von vorgestern gegen das Hockey von heute strebt dem Höhepunkt zu.
Am Ende werden die Statistiker für den aufwühlenden Schlussabschnitt eine 13:7-Torschussüberlegenheit für den ZSC notieren. Ein Zürcher Kollege beugt sich zu mir herüber und raunt: «Jetzt wackelt das SCB-Kartenhaus».
Kurz darauf fällt das SCB-Spiel tatsächlich zusammen wie ein Kartenhaus. Aus drei Strafen resultieren drei Treffer. Aus einem 2:2 wird ein 3:6. Technik und Taktik triumphieren.
Wir dürfen uns schon auf den Cup-Final zwischen diesen zwei Teams freuen. Nicht auszuschliessen, dass es den Bernern gelingt, das ZSC-System doch zum Einsturz zu bringen.
Auch die ZSC Lions steuern einen Hauch der 1970er Jahre bei. Was ist das Kultur-Merkmal der 1970er Jahre? Richtig: die langen Haare.
Günter Netzer, Björn Borg oder Jackie Stewart prägen diese Mode im Sport. Was Günter Netzer im teutonischen Fussball, ist in diesen Jahren Michel Turler in unserem Hockey.
Vor dem Einlaufen pflegt er den Helm sorgsam auf die Spielerbank zu legen. Dann lässt er sein langes Haar im Lauf-Fahrtwind wehen. Der eleganteste, charismatischste Stürmer der 1970er Jahre wird viermal Torschützenkönig der höchsten Liga und mit La Chaux-de-Fonds sechsmal in Serie Meister (1968 bis 1973).
Und was hat das mit den ZSC Lions von heute zu tun? Dem neutralen Beobachter, der nur auf Äusserlichkeiten achtet, fallen drei Zürcher in ganz unterschiedlichen Rollen mit recht langen Haaren auf: Sven Andrighetto (27), Roman Wick (35) und Willy Riedi (22).
Sven Andrighetto ist inzwischen nicht nur Liga-Topskorer. Er ist auch der Dynamo des Spiels. Unermüdlich, unaufhaltsam wie eine Maschine. Eine aufregende Kombination aus Härte, Zielstrebigkeit, Spielintelligenz, Talent und Eleganz. Nach zehn Jahren in Nordamerika und Russland dominiert er in seiner ersten NL-Saison alle drei Zonen.
Immer mehr wird offenbar: Er ist Sven Leuenbergers «Kaiser-Transfer». Wahrscheinlich werden wir im Mai erkennen, dass die Geschichte dieser Saison anders verlaufen wäre, wenn die Zuger das Rennen um den WM-Silberhelden gemacht hätten. Und sein Helm kann nicht mehr alle Haare fassen.
Noch ein bisschen länger sind die Haare bei Roman Wick, einem der letzten Romantiker unseres Hockeys. Noch in der Spielzeit 2017/18 liess er sich 20 Tore notieren. Kaum zu glauben, dass der Hobby-Rockmusiker diese Saison noch nie getroffen hat.
Er ist jetzt 35. Nach wie vor blitzt seine Eleganz auf. Er mahnt ein wenig an den 34-jährigen Michel Türler in seiner letzten Meistersaison 1977/78 beim EHC Biel. Ist es die letzte Saison von Roman Wick? Es wäre bedauerlich.
Doch die beste Frisur hat Willy Riedi (22). Noch nie gehört? Die Swiss League hat er mit den GCK Lions schon ganz ordentlich gerockt (20 Spiele, 15 Punkte). In der höchsten Liga ist er noch ein unbeschriebenes Blatt und ein unbedruckter Dress.
Er kann mit seiner NHL-Postur (189 cm/93 kg) die ZSC-Antwort auf Simon Moser werden. Ein Powerstürmer, der die Liga dominieren wird. Nun konnte er im 9. NL-Einsatz gegen den SCB den ersten Skorerpunkt bejubeln. Zum 2:2. Ein historischer Augenblick.
Willy Riedi ist optisch der auffälligste Spieler auf dem Eis. Er sieht aus wie ein Rockstar. Die längsten Haare und die Nummer 68. Frisur und Rückennummer wie Jaromir Jagr.
Dass er diese berühmte Nummer trägt, hat nichts mit Grössenwahn zu tun. Sportchef Sven Leuenberger klärt auf: «Wir haben nicht viele Leibchen ohne aufgedruckten Namen. Eines trägt zufälligerweise die Nummer 68.»
Nächste Saison werden die Zürcher Willy Riedis Namen auf das Leibchen drucken. Er wird nicht mehr ein unbeschriebener Dress sein. Und warum nicht die Nummer 68 behalten?
Und so haben uns zwei Mannschaften in einem höchst unterhaltsamen Spiel einen Querschnitt durch die letzten 50 Jahre Hockeykultur beschert.
Die ZSC Lions mit Frisuren wie vor 50 Jahren und der SCB mit Hockey wie vor 50 Jahren. Was hockeytechnisch keineswegs boshaft gemeint ist, sondern aufmunternd: 1974 «zerstörte» der SCB mit Wucht und Kraft und Leidenschaft die grosse, schöne Hockey-Maschine des HC La Chaux-de-Fonds und holte 1974, 1975, 1977 und 1979 den Titel. Und so wie heute mit Philip Wüthrich stand auch damals mit Jürg Jäggi ein Berner und nicht ein Bündner oder Zürcher im SCB-Kasten.
Aber die Zeiten haben sich im Bernbiet halt auch im Hockey ein wenig geändert.
Es ist immer wieder schön NHL Spiele zu schauen, wo die Leibchen nur die eigenen Farben und das Vereinsemblem würdigen.
Dieser Bericht schmerzt! Wenn P.A.Cadieux, Ehrenmitglied beim SCB, einer der im Training jedem einzelnen Junior hinterhergefahren ist und ganze Jahrgänge geprägt hat noch etwas zu sagen hätte, wäre M.Lüthi mit seiner Ligareform mit Schimpf und Schande davongejagt worden. Und damals war die Bude bei jedem Spiel ausverkauft und nur 2 Ausländer zugelassen!!!