Wahnsinn. Verrückt. Und diese Einsicht reift ausgerechnet am Abend des Weihnachtstages.
Der Chronist pflegt am Weihnachtstag nach Davos anzureisen. Der Spengler Cup beginnt erst am nächsten Tag. So hat der Flachländer genug Zeit, sich an die Höhenlage auf 1600 Metern über Meer anzupassen.
Eine beinahe gespenstische Ruhe liegt am Abend des Weihnachtstages über Davos, über den Bergen und dem Tal. Und auf einmal wird der Abendspaziergang zur melancholischen Zeitreise.
Davos 1983 am Tag vor dem Spengler Cup. Verlassen ist der Kurpark, fast ein wenig unheimlich. Wie der Park eines verwunschenen Schlosses. Im eisfreien Teil des Teiches schwadern Enten.
Hockey als Big Business? Nein. Der Spengler Cup schreibt knapp schwarze Zahlen. Wenn überhaupt. VIP-Logen? Der Begriff VIP ist noch nicht einmal im Hockey angekommen. Das Geldhaus, das wir heute als UBS kennen, existiert so noch nicht. Es wird erst gegen Ende des Jahrhunderts aus der Schweizerischen Bankgesellschaft und dem Schweizerischen Bankverein entstehen.
Internationale Grossbanken als Spengler-Cup-Sponsoren? Eher gurgelt der Teufel mit geweihtem Wasser. Ein Medienzentrum? Gibt es nicht. Das Highlight ist jeweils die «Manöverkritik» mit HCD-Präsident Gery Diethelm gegen Mitternacht im Pöstli. Es gibt gratis Bündner Gerstensuppe.
Vor dem Stadion steht jetzt schon am Vorabend und dann während des Turniers ein technisches Wunderwerk: ein Telefon- und Telexwagen der PTT. Die Storys werden mit der Schreibmaschine auf Papier gehämmert. Das beschriebene Papier wird in den Telefon- und Telexwagen gebracht und dort von charmanten PTT-Frauen per ratternden Telex-Apparaten in die Redaktionsstube übermittelt. 1985 wird es zu einer Revolution kommen: Die Texte werden mit einem Faxgerät übermittelt! Zur Kontrolle wird mit dem Festnetztelefon – die PTT-Frauen schalten in den Kabinen im Wagen eine Leitung frei – die Redaktion angerufen.
Still und verlassen und dunkel liegen 1983 am Abend vor dem Turnierbeginn der Kurpark und Hockey-Tempel da.
Zeitsprung in die Gegenwart. Weihnachten 2023. Davos am Tag vor dem Spengler Cup. Im Kurpark steht ein zweites Stadion. Hell leuchten die Lichter. Es ist der neue VIP-Tempel. Ganz aus Holz gezimmert, das aus den ewig rauschenden Bündner Wäldern stammt.
Auf der Längsseite entdeckt der Chronist die riesige Heizungsanlage: Pellets (aus Bündner Holz natürlich) werden verfeuert. Lastwagen werden die Pellets laufend für die riesige Verbrennungsanlage herankarren.
Im Inneren des VIP-Tempels brennt Licht. Es wird noch gegen 21.00 Uhr eingerichtet und gestaubsaugert. Irgendwie mahnt der imposante, längliche Bau mit den vielen Lichtern an eine Titanic im Schnee.
Der Chronist kennt die exakten Zahlen – Grösse, Höhe, Länge, Volumen – des neuen VIP-Tempels nicht im Detail. Messen darf er nicht. Ein freundlicher junger Mann vom Sicherheitsdienst bittet um Abstand vom Gebäude.
Aber der optische Eindruck ist ganz einfach überwältigend. Gefühlt sind es mindestens die Dimensionen des Stadions in Langnau. Im neuen VIP-Tempel könnte problemlos ein Eisfeld eingebaut werden.
Wenn ein Fremder, der nichts vom HCD und vom Spengler Cup weiss, hier stehen und gefragt würde, welcher der zwei Tempel die Hockeyarena und welcher das VIP-Gästehaus sei – er würde mit ziemlicher Sicherheit das VIP-Gästehaus als Hockeystadion bezeichnen.
Und was ein in der Sache unkundiger Besucher nicht weiss: Wenn der Spengler Cup und das WEF vorbei sind, wird der hölzerne Tempel wieder abgebaut (er wird ja nicht mehr benötigt). Der Kurpark wird in der Nacht wieder sein wie 1983. Mit Enten.
Der neue VIP-Tempel ist sozusagen die grösste mobile Festhütte der Welt. Ganz im Sinne der Zeit: Aus heimischem Holz, mit Holz geheizt, abbaubar, umweltfreundlich. Vielleicht können mit dieser Gebäudetechnik in fernen Zeiten die Sport-Infrastrukturprobleme im Unterland gelöst werden: im Winter Hockey-Stadion, im Sommer an einem ganz anderen Ort Festhütte beim Eidgenössischen Schwingfest. Und eine UBS-Aktionärsversammlung könnte an einem Ort nach Wunsch (warum nicht auf dem Rütli?) in dieser wunderbaren Einrichtung wohl problemlos abgehalten werden.
Auf dem Weg zurück zum Hotel kommt der Chronist an einem architektonischen Meisterwerk vorbei, für das die Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer den höchstdotierten Architekturpreis der Schweiz gewonnen haben: dem Museum, das die Werke von Ernst Ludwig Kirchner aufbewahrt. Im Vergleich zum Hockey-Tempel und erst recht zum VIP-Schluss wirkt dieses Gebäude höchst bescheiden. Wer sich nicht auskennt in Kunst, Kultur und Hockey denkt: Wird wohl die Garage für den HCD-Mannschaftsbus sein.
So wird an einem Weihnachtstag eindrücklich sichtbar, wie aus dem Hockey, aus dem Spengler Cup Big Business geworden ist, das für ein paar Tage alles andere – auch Ernst Ludwig Kirchner – in den Schatten stellt. Aber auch, wie sich die Medienwelt verändert hat.
Die PTT, die Telefon- und Telexwagen und Festnetztelefone gibt es nicht mehr. Und ein politisch nicht ganz korrekter Gedanke sei gestattet: Die freundlichen, jungen PTT-Frauen müssen jetzt gegen 70 Jahre alt sein.
Der pünktlich zur 100-Jahre-Feier errichtete neue VIP-Tempel passt perfekt zum Spengler Cup. Die UBS gehört zu den Hauptsponsoren. Die UBS ist ja jetzt auch grösser. Die noble NZZ (nicht etwa der Boulevard) hat sogar von einer Monsterbank geschrieben. Eigentlich entsprechen die neuen Dimensionen des VIP-Tempels ziemlich akkurat den neuen, globalen Dimensionen des Hauptsponsors.
Zum 100-Jahre-Jubiläum werden viele berühmte Gäste kommen. Titanen des Hockeys, der Politik wohl auch. Da würde es wunderbar passen, wenn auch UBS-General Sergio Ermotti, der George Clooney der internationalen Bankenwelt, dem Spengler Cup zum 100-Jahre-Jubiläum seine Aufwartung machen würde.