Mythos Langnau. Das Wort steht für Dinge oder Personen von hoher symbolischer Bedeutung. Wie zeigt sich der Mythos Langnau?
Ich möchte dazu einleitend eine Episode erzählen. Sie sagt uns, was der Mythos Langnau bewirkt. Es ist eine Begebenheit, die nur in Langnau möglich ist.
Im Sommer 2009 stehen die SCL Tigers am Rande des Abgrundes. Der SCL Tigers AG droht der Konkurs und das Stadion genügt den Ansprüchen des modernen Sportes bei Weitem nicht mehr.
Präsident Hans Grunder präsentiert im Rahmen einer kleinen Medienkonferenz eine Männerrunde, die ihm bei der Sanierung und Rettung beistehen soll. Dazu gehört Peter Jakob. Er erklärt ausdrücklich, dass er helfen wolle. Aber die Übernahme des Präsidentenamtes sei ausgeschlossen. Wirklich ausgeschlossen. Nach der Medienkonferenz erklärt er mir, auch ein finanzielles Engagement für die SCL Tigers komme für ihn unter gar keinen Umständen in Frage.
Aber der Mythos Langnau wirkt. Kurz darauf wird Peter Jakob doch Präsident und zusammen mit Gemeindepräsident Bernhard Antener der Hauptdarsteller einer beinahe märchenhaften Hockeygeschichte.
In diesem heissesten Langnauer Hockey-Sommer 2009 kommen Peter Jakob und Bernhard Antener nämlich nach nächtelangem Studium der Akten und Zahlen und nach Abwägen aller Möglichkeiten zum Schluss: Die SCL Tigers AG ist nicht mehr zu retten. Die Bilanz muss deponiert werden. Die Geschichte des grossen Eishockeys im Emmental ist zu Ende.
So gehen die beiden Männer schweren Herzens tief in der Nacht nach Hause. Am nächsten Tag soll der Gang zum Konkursrichter vorbereitet werden. Antener weiss, wie das geht. Er ist Fürsprecher und Notar mit Kanzleien in Langnau und Sumiswald.
Am nächsten Vormittag sitzt Langnaus Gemeindepräsident auf dem Zahnarztstuhl und hat auf einmal die Erleuchtung. Die Idee für die Rettung. Er trifft sich wieder mit Jakob. Aber nun nicht mehr für die Visite beim Konkursrichter. Weil keine privaten Investoren mehr zu finden sind, soll der Steuerzahler die Tiger retten.
Wohl in jedem anderen Ort der Schweiz wäre der Griff in die Steuerkasse völlig undenkbar. Aber der Schachzug gelingt. Mythos Langnau.
Das Gemeindeparlament bewilligt im August 2009 einen zinslosen Kredit in der Höhe von 800'000 Franken für die SCL Tigers AG (der dann vorzeitig zurückbezahlt werden wird) plus 100'000 Franken für Aktienzeichnungen.
Der Konkurs kann abgewendet werden. Die Tiger leben weiter. Aber klar ist auch: Das Stadion muss saniert werden.
Jakobs Vorgänger Grunder ist mit seinen Stadion-Neubauplänen grandios gescheitert und auch mit den Hockey-Finanzen «am Haag a» (in eine Sackgasse geraten). Die Emmentaler haben ihm nicht verziehen, dass er die SVP verlassen und die BDP gegründet hat. Es scheint unmöglich, das Geld für einen Stadion-Neubau oder auch nur eine Rennovation aufzutreiben.
Wieder übernehmen Bernhard Antener und Peter Jakob die Federführung. Der SP-Politiker und der international erfolgreiche Unternehmer spannen zusammen. Ohne einen Franken Werbebudget, ohne die Einmischung von PR-Beratern, wagen sie ein kühnes Projekt: die Rennovation des Ilfisstadions, im Sommer 1975 über der offenen Kunsteisbahn erbaut.
Anteners und Jakobs Stärken: Transparenz, ehrliche Kommunikation, Engagement, sorgfältige Detailarbeit. Sie haben auch das Glück des Tüchtigen: 2011 gelingt erstmals in der höchsten Liga die Playoffqualifikation. Die Stimmung ist im Emmental im Frühjahr und Sommer 2011 so gut wie wahrscheinlich nie mehr seit dem Titelgewinn von 1976.
Das Wunder gelingt. Das Langnauer Stimmvolk bewilligt einen Kredit von 15,38 Millionen für die Stadionrennovation mit einer Mehrheit von 75 Prozent (!). Der Mythos Langnau wirkt.
Eine solch überwältigende Zustimmung zu einem Stadion-Projekt in diesen Dimensionen ist im Schweizer Profisport ohne Beispiel. Peter Jakob steuert privat noch einmal so viel Geld wie die Steuerzahler für die Gesamtsumme von gut und gerne 30 Millionen Franken bei. Und als er bei einer Betriebsversammlung seiner Belegschaft verkündet, der fixfertig geplante Neubau des Betriebes in Trubschachen müsse um mehrere Jahre verschoben werden, weil er sich finanziell so stark an der Stadion-Sanierung beteilige, bekommt der Patron von seinen Angestellten eine Standing Ovation. Mythos Langnau.
Es ist mehr als nur das Bekenntnis zu den SCL Tigers, das hinter diesem Stadionprojekt steht. Es ist auch der Stolz der Emmentaler, zu zeigen, dass sie fähig sind, auf eigenen Füssen zu stehen und die Welt zu verändern. Zürich, eine der reichsten Städte der Welt, bringt es beispielsweise nicht fertig, ein Fussball-Stadion zu bauen.
Inzwischen ist Jakob schon elf Jahre Vorsitzender der SCL Tigers. Er und Antener sind «Opfer» (bitte die Anführungszeichen beachten!) des Mythos Langnau. Die Erfahrungen aus den struben Hockey-Zeiten kommen Bernhard Antener nun zugute. Er ist inzwischen Verwaltungsrat der krisen- und skandalgeschüttelten Berner Staatseisenbahn BLS geworden.
Die Geschichte der Langnauer Hockeykultur wird geprägt von Persönlichkeiten, die erkannt haben, dass die SCL Tigers mehr sind als eine traditionsreiche Hockey-Firma. Dass die SCL Tigers AG so zum Emmental gehört wie Albert Bitzius oder der Käse mit den grossen Löchern.
In der Langnauer Hockeykultur erkennen wir die ewigen Stärken eines eigenwilligen Menschenschlages und die Zauberformel des Mythos Langnau: Bescheidenheit, Arbeit, Beharrlichkeit, Zähigkeit, Fleiss, Wille und ebenso Mut, Zuversicht, Schlauheit und ein unbestürzbares Selbstvertrauen.
Zu allen Zeiten haben Männer wie Peter Jakob und Bernhard Antener dafür gesorgt, dass sich der SC Langnau (heute: SCL Tigers) in einem Sport behaupten kann, der eigentlich im Emmental gar nicht finanzierbar ist.
Der Pioniergeist der Gründerväter, jener Männer, die den SC Langnau bis 1961 zum ersten Mal in die höchste Liga geführt haben, ist nie erloschen. Auch nicht im 21. Jahrhundert. Die Geschichte der Rettung der SCL Tigers im Sommer 2009 steht symbolisch für die ganze Historie der Langnauer Hockey-Kultur. Nie aufgeben. Zusammenstehen. Immer wieder aufstehen. Nicht jammern. Lösungen suchen.
Ich verzichte auf eine Aufzählung der Frauen und Männer, die Langnaus Hockeykultur zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Erstens wäre die Liste von A wie Jakob Augsburger bis Z wie Emil Zaugg viel zu lang und zweitens will ich mich nicht dem Vorwurf aussetzen, ich hätte jemanden mutwillig vergessen. Aber zwei möchte ich sozusagen stellvertretend doch erwähnen. Um den Mythos Langnau zu erklären.
Kennen Sie John Mauerhofer? Er ist selbst in Hockeykreisen nur wenigen bekannt. Dabei ist er in den 1970er- und 1980er-Jahren einer der besten Sportchefs im Land. Beruflich in einer grossen Käsehandelsfirma in Langnau mit dem Auslandgeschäft betraut, sprachgewandt, mit Beziehungen in die ganze Welt und auch nach Nordamerika. Er holt für Langnau Ausländer, an die bezahlte und berühmte Manager nicht zu denken wagen oder gar nicht herankommen. Beispielsweise Peter Sullivan, einer der besten Nordamerikaner, die je in der Schweiz gespielt haben.
Mauerhofer steht für die Klugheit und die Bescheidenheit, die für so viele rund ums Langnauer Hockey typisch sind. Um grosse Worte von John F. Kennedy zu verwenden: Nicht fragen, was Langnau für dich tun kann. Sondern fragen, was du für Langnau tun kannst.
Simon Schenk, viel zu früh verstorben, kennen wir alle. Er ist der Ur-Langnauer, der sich in allen lokalen und nationalen Hockey-Ämtern bewährt hat. Er war Leitwolf im Meisterteam von 1976 und hat den SC Langnau als Trainer und Geschäftsführer zweimal aus der 1. Liga wieder in die Nationalliga zurückgeführt. Und er, der Emmentaler, hat in Zürich die Organisation der ZSC Lions aufgebaut und als Nationaltrainer die Schweiz zweimal zurück in die A-WM gebracht.
Langnauer Art setzt sich eben überall in der Hockeywelt durch. Der grosse Frank Sinatra hat einmal über New York gesungen: «And if I can make it there I'm gonna make it anywhere» («Wenn ich es hier schaffe, dann schaffe ich es überall»). Wir können das auf Langnau übertragen: Wer es hier packt, der packt es überall. Auch das gehört zum Mythos Langnau.
Eine starke Wirkung hat der Mythos Langnau auf die Fans. Es ist so, dass eine Fan-Beziehung zu einem gewöhnlichen Klub sehr stark erfolgsabhängig ist. Kommen Niederlage, kommt Krise oder gar ein Abstieg, dann verringert sich die Anzahl der Fans dramatisch.
Nur zu einem Klub, der als Mythos bezeichnet werden darf, ist die emotionale Bindung nicht mehr resultatabhängig. Eher selten sind Fans, die treu bleiben, über Generationen, die sich auch nach mehreren Abstiegen und grandiosen Misserfolgen nicht abwenden und bereit sind, in schweren Zeiten zu leiden und zu sagen: Wir sind für unseren Klub, also sind wir, komme was wolle.
Ein Mythos ist ein Klub also erst, wenn er in der Beziehung mit seinen Anhängerinnen und Anhängern resultatunabhängig geworden ist wie Langnau. Und wenn sein Stadion zu einem Sehnsuchts- und Kraftort wird.
Der «Hockey-Tempel» an der Ilfis ist so ein Sehnsuchtsort geworden. Für die Sehnsucht nach der heilen Welt der Annebäbeli, Vreneli, Stüdi und Lisi, der Hansli, Ueli, Joggeli und Sami. Bescheidenheit, Einfachheit und Lauterkeit.
Aber dieser Sehnsuchtsort steht auch für die andere Seite: Niederlagen, Dramen, Schwierigkeiten. Das Emmental ist nicht nur die üppige, grüne, sonnige, ghögerige Landschaft mit fröhlichen Kälbern, glücklichen Kühen und redlichen, arbeitsamen Menschen. Manchmal scheint die Sonne nicht, und die Schwermut steigt in der Seele auf wie die Nebelschwaden aus den schwarzen Wäldern nach dem Gewitter.
Die Emmentaler nehmen vieles schwer, sogar das Singen und Jodeln, zu welchem sie die Hände im Hosensack zur Faust ballen. Sie können nachtragender sein als ein unabsichtlich getretener Hofhund.
Deshalb haben sie im Laufe der Jahrhunderte wie kaum ein anderes Völkchen gelernt, mit schwierigen Charakterköpfen umzugehen, ihr Herz zu verschliessen und hart arbeitend Krisen zu überwinden. Auch für all das steht der Mythos Langnau.
Noch etwas darf nicht unerwähnt bleiben: Um sich durchsetzen zu können, braucht es eine Portion Schlauheit. «Bauernschläue» sagen die unwissenden Hoffärtigen aus den urbanen Zentren. Dafür liefern die Langnauer ein schönes Beispiel.
Zu Beginn der 1970er-Jahre ist Werbung auf dem Dress strikte verboten. Während der Saison 1970/71 tragen die Langnauer zum ersten Mal auf dem Dress einen Tigerkopf. Zufälligerweise sieht er exakt so aus wie der Tigerkopf der Tiger Käse AG, die den Schachtelkäse «Tiger» verkauft. Für diese Werbung zahlt die Tiger Käse AG die damals schier unfassbare Summe von 40'000 Franken.
Die Verbandsgeneräle reagieren umgehend und drohen mit dem Ausschluss aus der Meisterschaft, sollte diese verbotene Werbung nicht sofort verschwinden. Doch schlau präsentiert Präsident Walter Schwarz (der Onkel des Hockey-Experten Ueli Schwarz) alte Fotos der Langnauer mit einem Tiger. Er erklärt, man habe das ursprüngliche Logo wieder hervorgeholt und in eine etwas modernere Form gebracht. Jede Ähnlichkeit mit dem Tiger der Käsefabrik sei ungewollt und zufällig. Die Verbands-Obrigkeit gibt klein bei. So sind aus den Langnauern bis auf den heutigen Tag Tiger geworden. Auch das gehört zum Mythos Langnau.
Berühmte Klubs sind von der grossen Bühne verschwunden, unter anderem, weil sie nie ein Mythos geworden sind: La Chaux-de-Fonds, sechs Mal in Folge Champion Suisse. Arosa, sieben Mal hintereinander Meister oder Villars, zwei Mal nacheinander Meister zum Beispiel.
Sie hatten bessere oder mindestens so gute Voraussetzungen wie die Langnauer. Aber sie sind in die Zweitklassigkeit und tiefer gefallen. Weil sie kein Mythos geworden und nicht von den Fans durch böse Zeiten getragen worden sind wie die Langnauer.
Was echte Fans sind, was ein Mythos ist, wissen eigentlich nur Langnau und Ambri, die zwei einzigen Dorfklubs, die sich im Zeitalter des Profisportes zu behaupten wissen. Die «Weltwoche» hatte Unrecht, als sie 1985, nach dem ersten Abstieg aus der höchsten Liga titelte: «Ein Dorf verschwindet von der Landkarte.»
Zweimal – 1991 und 1993 – ist der SC Langnau in die 1. Liga abgestiegen. Während der Saison 1991/92 eilten pro Heimspiel durchschnittlich 3667 Männer, Frauen und Kinder ins Stadion. 1993/94 waren es sogar 4224. Um Partien gegen Worb, Adelboden, Burgdorf, Marzili-Länggase oder Zunzgen-Sissach beizuwohnen. Mehr Zuschauer im Amateurhockey als damals bei einigen Klubs der höchsten Spielklasse. Mythos Langnau.
Erst diese Treue hat Langnau das Überleben, den Übertritt aus der guten alten Zeit ins unerbittliche «Big Business» des 21. Jahrhunderts ermöglicht.
Der SC Langnau hat damals in der 1. Liga nur zwei von 64 Spielen verloren und zweimal den sofortigen Wiederaufstieg in die NLB erreicht. Wenn wir schon bei diesen legendären zwei Saisons in der 1. Liga sind: Auch viele Spieler halten dem Klub die Treue. Mit Jürg Berger, Rolf Tschiemer sogar noch zwei aus dem Meisterteam von 1976. Mythos Langnau eben.
Dieser Mythos wird die SCL Tigers auch künftig durch alle Krisen tragen.