Nicht oft trifft eine nordamerikanische Redewendung die Situation so gut: «All the tools but no toolbox» («Alle Werkzeuge, aber keine Werkzeugkiste»). Das erklärt die Schwierigkeiten der Schweizer bei dieser U-18-WM exakt.
Der Unterschied ist gewaltig. In Kanada spielen 518'000 Junioren. In der Schweiz 13'740. Auf dem Eis ist die Differenz hingegen minim. Die Kanadier gewannen bloss 4:1.
Das mag zeigen, welch starke Hockeykultur wir in der Schweiz haben. Die Kanadier verschwenden und vergeuden und vergessen ihre Talente. Sie sortieren aus einem Heer von Junioren laufend die besten aus und kümmern sich nicht um jene, die mal zurückbleiben.
In der Schweiz können wir es uns nicht leisten, auch nur ein einziges Talent zu übersehen und zu verlieren. Unsere Ausbildungsprogramme gehören weltweit zu den besten und wir tragen Sorge zu jedem Talent. Bei uns gibt es eine zweite, dritte und manchmal auch vierte oder fünfte Chance.
So kommt es, dass wir heute auf Augenhöhe mit den Titanen aus Kanada, Russland, Schweden, Finnland, Tschechien oder den USA spielen. Noch vor 20 Jahren waren wir gegen die Grossen chancenlos. 1989 haben wir beispielsweise bei der U18-EM gegen Finnland 0:17, gegen die Tschechoslowakei 1:19, gegen Schweden 0:14 und gegen Russland 2:13 verloren. Keine andere Hockeynation hat so grosse Fortschritte gemacht wie wir.
Aber grosse Triumphe feiern wir nur dann, wenn alles stimmt und wenn wir auch noch ein bisschen Glück haben. Wenn alles zusammenpasst, ist fast alles möglich. 2001 erreichten wir bei der U18-WM in Finnland nach Siegen gegen Deutschland (7:1) und Gastgeber Finnland (4:2) das Finale, das wir gegen Russland verloren (2:6).
Bisher hat uns in Zug auch ein bisschen das Glück gefehlt. Wir haben gegen die Kanadier Captain Roger Karrer, unseren besten Verteidiger, gleich beim ersten Einsatz verloren. Er erlitt durch einen üblen, nicht geahndeten «Blind-Side Hit» einen Schlüsselbeinbruch.
Aber fehlendes Glück ist nicht der entscheidende Faktor für die bisher enttäuschenden Resultate. Es gibt drei Probleme.
Erstens: Wir haben keinen grossen Torhüter. Joren van Pottelberghe ist auf den ersten Blick ein guter Torhüter. Postur (188 cm/91 kg) und Stil (Butterfly) entsprechen genau dem idealen Torhüter des 21. Jahrhunderts. Er mahnt ein wenig an Reto Berra und hat das Potenzial für eine schöne Profikarriere. Aber er hat bisher an diesem WM-Turnier noch kein Charisma. Keine zwingende Ausstrahlung. Er spielte bisher zu wenig aggressiv und war nicht dazu in der Lage, den Raum um sein Tor herum zu dominieren. In den zwei Partien gegen Finnland (1:3) und Kanada (1:4) gelangen ihm keine «big saves», keine grossen Paraden. Gemeint ist die Abwehr von Pucks, die zu einem «unhaltbaren» Treffer geführt hätten. Die Schweizer haben zwar nicht wegen ihres Torhüters gegen Finnland und Kanada verloren. Aber sie haben eben auch nicht dank ihrem Goalie gewonnen.
2001 war Tobias Stephan (heute Zug) bei der U18-WM so ein grosser Goalie und hexte uns mit einer Fangquote von 92,73 Prozent ins Finale. Damals gewannen wir dank dem Torhüter. Joren van Pottelberghes Abwehrquote steht bei höchstens durchschnittlichen 87,27 Prozent. Das reicht nicht.
Zweitens: Keine Mannschaft. Ein U18-WM-Team zu coachen ist ähnlich schwierig wie einen Sack voll Flöhe zu hüten. Die Einstellung der Spieler ist zwar tadellos. Junge Musterprofis. Aber der Eindruck, den einer bei dieser WM hinterlässt, beeinflusst die Chancen beim NHL-Draft in erheblichem Masse. Deshalb ist es wichtiger, als Einzelspieler zu brillieren als mit dem Team zu siegen.
Stellvertretend für dieses Problem steht Jonas Siegenthaler. Er hat mit den ZSC Lions soeben das Play-off-Finale beendet, gehört zu den weltweit besten Verteidigern ab Jahrgang 1997 und im NHL-Draft zu den Erstrunden-Kandidaten. Aber er spielt zu egoistisch und zu undiszipliniert. Gegen die Kanadier sass er beim 0:1 und beim 1:4 auf der Strafbank. Wenn er sich nicht erheblich steigert, kostet ihn diese WM möglicherweise den NHL-Erstrundendraft.
Drittens: Kein charismatischer Coach. Cheftrainer Manuele Celio weiss alles über unsere Nachwuchsspieler und über Ausbildung. Aber er ist eher Theoretiker als ein Mann für den Pulverdampf grosser Spiele und eher kluger Opportunist als mutiger Revolutionär. Also kein charismatischer Bandengeneral. Der Mannschaft fehlte bisher die taktische Handschrift des Coaches. Die grosse spielerische Substanz ist zu wenig strukturiert, die Fehlerquote viel zu hoch und die Disziplin zu niedrig. Für diese Mängel trägt der Coach die Verantwortung.
Nun brauchen die Schweizer für die Viertelfinalqualifikation am Montag einen Sieg gegen Lettland (19.45 Uhr in Zug). Im Falle einer Niederlage drohen die Abstiegsspiele, wahrscheinlich gegen Deutschland. Ein Sieg gegen Lettland und dann ein grosser Tag am Donnerstag im Viertelfinale – und alle vorangegangene Kritik wird vergessen sein.
Ein Wunder ist möglich. Weil das Potenzial dafür vorhanden ist. Aber dann braucht es in jedem Bereich eine ganz erhebliche Steigerung und Manuele Celio muss als Coach eine Nummer grösser, autoritärer, charismatischer werden. Es genügt nicht, wenn er alle Schwächen sieht und wunderbar erklären und entschuldigen kann. Er muss nun dazu in der Lage sein, die erkannten Schwächen zu korrigieren.
Oder ganz einfach gesagt: Es muss ein Ruck durch die Mannschaft gehen.