Kunst, Kaltblütigkeit, Disziplin, Leidenschaft, taktische Schlauheit, ein bisschen Glück, Drama und mindestens zwei Heldengeschichten. Oben auf der Resultatanzeige im Zürcher Hockeytempel stehen 19:8 Torschüsse. Aber Ambri führt 0:3. Dario Bürgler nützt das erste Powerplay zum 0:1 (2.), Dominik Kubalik das zweite zum 0:2 (8.) und André Heim hat mit einem Kunstschuss zum 0:3 (28.) getroffen. Powerplay ist die Kunst, den Gegner mit einem Mann mehr schachmatt zu setzen, und Ambri zelebriert diese Kunst gegen eines der talentiertesten Teams Europas.
Ambri braucht ein wenig Glück, um den Vorsprung ins Ziel zu retten und den ZSC Lions die erste Heimniederlage ohne Punktgewinn beizufügen. Beinahe hätten die Zürcher das 0:3 aufgeholt. Willy Riedi trifft in der 53. Minute den Pfosten statt zum 3:3. Aber mehr Glück, als einem tüchtigen Team eigentlich jeden Abend zusteht, braucht Ambri nicht. Weil wir das wahre Ambri, ja weil wir seine ganze Geschichte an einem einzigen Abend gesehen haben.
Diese TV-Bilder lassen den Atem stocken: Verteidiger Jesse Zgraggen wird vom hart geschossenen Puck im Gesicht getroffen. Blutend fährt er vom Eis und auf dem Weg in die Garderobe drückt er ein Frottiertuch auf die Verletzung. Das Hilfspersonal rückt aus, um das Eis vom Blut zu reinigen. Sein Ausfall ist ein herber Verlust für Ambri. Er sorgt für die defensive Absicherung neben Offensiv-Verteidiger und Topskorer Jesse Virtanen. Jesse & Jesse sind ein zentrales Element in Ambris Spiel. Offensiv und defensiv.
Jesse Zgraggen kehrt noch vor Drittelsende aufs Eis zurück und nimmt seinen Platz neben Jesse Virtanen wieder ein, als wäre er nur kurz Zigaretten holen gegangen. «Ich war sicher, dass er nicht mehr spielen kann», wird Trainer Luca Cereda nach dem Spiel sagen. «Aber nach ein paar Minuten kam unser Masseur und sagte, der Teamarzt sei am Nähen und Jesse werde bald zurück sein.» Er habe es fast nicht glauben können.
Ja, der Teamarzt hat genäht. Wie Jesse Zgraggen hinterher erzählen wird, gleich an mindestens vier Stellen: «Also genau habe ich die Stiche nicht gezählt. Mit drei oder vier ist die Wunde am Unterkiefer aussen zugenäht worden, vier brauchte es auf der Innenseite der Unterlippe und wohl drei auf der Innenseite der Oberlippe. Vorne an der Unterlippe ist auch noch eine Naht …» So genau wisse er es noch nicht. Wahrscheinlich seien auch zwei oder drei Zähne etwas gelockert worden. «Ich werde wohl am Montag zur Kontrolle beim Zahnarzt vorbeischauen.» Er erzählt es mit ein wenig belegter Stimme. So wie jemand, der grad vom Zahnarzt kommt.
Mindestens zehn Stiche im Gesicht und im Mund genäht. War das nicht schmerzhaft? «Ja, doch. Sehr schmerzhaft. Aber der Arzt hat gesagt, um das schmerzfrei zu machen, müsste er an fünf oder sechs stellen spritzen. Dann hätte es Schwellungen gegeben und ich hätte wahrscheinlich nicht mehr spielen können.» Also nicht schmerzfrei spritzen und so schnell wie möglich zurück aufs Eis. Noch im zweiten Drittel ist er wieder im Einsatz und am Schluss hat er bloss rund drei Minuten weniger Eiszeit als sonst üblich.
Der freundliche kanadisch-schweizerische Doppelbürger hat also, wie es so schön heisst, auf die Zähne gebissen. «Aber eigentlich konnte ich das nicht. Weil zwei oder drei Zähne gelockert sind …» Gerne würde er fürs Foto ein wenig lächeln. Aber das lassen die Blessuren irgendwie nicht zu.
2014 kommt Jesse Zgraggen nach Ambri. Der Fanclub ermöglicht mit einer Sammlung den Transfer und die Reise von Kanada in die Leventina. Vier Jahre bleibt er, dann 2018 der Wechsel nach Zug mit einer Meisterfeier im Frühjahr 2021 und anschliessend eine Saison in Davos. Im Sommer 2022 holt ihn der SCB und schiebt ihn im Laufe der vergangenen Saison nach Ajoie ab. Nun ist er mit Vertrag bis 2026 wieder daheim in Ambri. Am Ort seiner Bestimmung.
Es gibt noch eine weitere Heldengeschichte. In der Schlussphase ersetzt ZSC-Coach Marc Crawford Torhüter Simon Hrubec durch einen 6. Feldspieler. Chris DiDomenico trifft zweimal ins verlassene Gehäuse zum 2:4 und zum 2:5. Hinterher erzählt er: «Es ist das erste Mal, dass ich zweimal so getroffen habe.» Das will etwas heissen. Der Kanadier ist im Februar 35 geworden und seine Karriere dauert doch schon eine Weile: Mehr als 200 Spiele bei den Junioren, fast 100 in Italien und in unserer NLB, über 500 Partien in der National League und alles garniert mit 27 NHL-Einsätzen und 26 Spengler-Cup-Auftritten.
Es gibt einen guten Grund für die zwei «Gratis-Tore» in den leeren Kasten. Cheftrainer Luca Cereda hat Chris DiDomenico in der alles entscheidenden Phase, als es gilt, das 3:2 mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, aufs Eis geschickt. Er ist also in Ambri angekommen und bereits ein Leitwolf. In 12 Spielen für Ambri hat er bereits 12 Punkte gebucht (5 Tore/7 Assists). Bei Gottéron waren es zuvor lediglich magere 9 Punkte in 16 Partien (2 Tore/7 Assists). Sportchef Paolo Duca ist sehr zufrieden, ja geradezu begeistert: «Er tut uns mit seiner Energie und seiner Leidenschaft gut. Er will aufs Eis und er will den Puck, wenn es zählt. Er geht ans Limit und manchmal darüber hinaus. Ein Spieler, den man manchmal ein wenig zurückhalten muss, ist mir lieber als einer, den man ständig antreiben sollte …» Kann Chris DiDomenico sein Leistungsniveau halten, dann hat er gute Chancen auf einen Vertrag für die nächste Saison.
Er hat erneut eine Einladung, um mit Team Canada den Spengler Cup zu bestreiten. «Aber ich werde die Einladung wohl nicht annehmen. Ich war ja schon sieben Mal beim Spengler Cup.» Es sei nicht so, dass ihm im Alter von 35 Jahren die Energie fürs Turnier fehle. «Ich fühle mich wie mit 20. Aber im letzten Sommer habe ich geheiratet. Wir erwarten im Frühjahr ein Baby. Es ist besser, wenn ich während der Weihnachtspause zu Hause bei meiner Frau bleibe.»
All das macht Ambri aus: Ein Spieler, der sich für sein Team aufopfert, beim Nähen seiner Blessuren auf schmerzstillende Spritzen verzichtet, um gleich wieder aufs Eis zurückkehren zu können. Ein Kanadier, der im Herbst seiner Karriere aufblüht. Weil er in Ambri am Ort seiner Bestimmung angekommen ist.
Das 5:2 in Zürich ist ein grosser Sieg. Zwei Tage zuvor hatten die Zürcher in Berlin im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League nach einem 0:3-Rückstand noch 4:3 gewonnen. Warum ist die Wende nicht noch einmal geglückt? Nun, an einem Abend, an dem ein leidenschaftliches Ambri den Segen der Hockey-Götter hat, sind die Leventiner fast unbesiegbar. Die ZSC Lions haben nicht enttäuscht. Sie haben mit 39:24 (13:5, 16:8, 10:11) Torschüssen dominiert und alles probiert. Sie waren nie überheblich und haben hart gearbeitet. Aber wenn alle fünf Feldspieler das gegnerische Tor belagern, dann befinden sich zehn in der gegnerischen Zone und der Puck findet durch all die Stöcke und Schlittschuhe keinen Weg ins Tor. Schon gar nicht, wenn Gilles Senn – wie an diesem Abend – sein bestes Hockey spielt. Und vielleicht waren die Zürcher nach dem Anschlusstreffer (2:3) 37 Sekunden vor der zweiten Pause ihrer Sache ein wenig zu sicher.
Ambri ist eben nicht Berlin.