Ein dumpfes Poltern kündigt im leeren Hockey-Tempel an der Ilfis den historischen Augenblick an. Langnaus Verteidiger Yannick Blaser wuchtet Gottérons Chris DiDomenico in die Bande. Das Rumpeln ist bis weit hinauf in die Tribüne zu hören. Und auch eindringliche, strenge Rufe, die an einen besorgten Schulmeister mahnen: «DiDo!, DiDo! DiDo!, DiDo!». Es ist Head-Schiedsrichter Julien Staudenmann. Es gelingt ihm, Chris DiDomenico davon abzuhalten, auf den Missetäter loszugehen und er kann eine vaterländische Prügelei verhindern. «Ja, ich wollte die Lage beruhigen» wird er hinterher sagen.
Die fällige Strafe (2 plus 10 Minuten) öffnet den Weg zu einem historischen, magischen Moment unseres Hockeys. Julien Sprunger trifft im Powerplay zum 5:0. Sein 652. Skorerpunkt für Gottéron im 850. Spiel. Er ist damit der erfolgreichste Skorer der Klub-Historie. Das ist schon historisch. Und auch magisch: Er ist es vor Slawa Bykow. Einem der besten Spieler der Hockeyweltgeschichte, mehrfacher Weltmeister und Olympiasieger.
Mit dem Assist zum 4:0 hatte Julien Sprunger Slawa Bykows Rekord eingestellt, mit dem 5:0 ist er nun alleiniger Rekordhalter und «Gottéron-Gretzky». Mit einem Rekord für die Ewigkeit. Slawa Bykow steht bei 651 Punkten aus 332 Partien.
Zurück zum historischen Abend in Langnau. Beim 4:0 und erst recht beim 5:0 geraten die Korrespondenten von Radio Freiburg und Radio Fribourg fast aus dem Häuschen wie brasilianische Fussball-Reporter beim Torjubel im WM-Final. Wortwirbel aus Freiburger Dialekt und etwas eleganterem Französisch steigen von der Medientribüne auf.
Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Erst recht bei einem Klub wie Gottéron, der noch nie Meister geworden ist und es vielleicht nie werden wird. Und es passt, dass Gottéron mit diesem Sieg auch gleich die Tabellenspitze übernommen hat, dass Julien Sprunger zum besten Spieler seiner Mannschaft gewählt wird und Torhüter Ivars Punnenovs, den er überwunden hat, zum Besten der Langnauer. Mehr Hollywood geht nicht.
Julien Sprunger hat Slawa Bykow übertroffen. Und bleibt nach dem Spiel doch gelassen. Wie so viele grosse Spieler (und auch Wayne Gretzky) ist er neben dem Eis zurückhaltend, leise, bescheiden. Ja, er wirkt fast zerbrechlich. Er spricht Deutsch und parliert en français in die Mikrophone, die ihm entgegengestreckt werden.
Gottérons Captain will nicht auf eine Stufe mit Slawa Bykow gestellt werden. «Ich kann mich nicht mit Slawa vergleichen. Er war einer der besten Spieler der Welt. Er hat so viel erreicht.» Er könne noch heute viel von ihm lernen. Noch bevor er für die Interviews wieder aus der Kabine gekommen ist, hat er auf seinem Smartphone die eintrudelnden Gratulations-SMS gesehen. «Eines der allerersten kam von Slawa. Das freut mich ganz besonders.» Und auch jetzt, in der Stunde des grössten persönlichen Triumphes, vergisst er seine Spielkameraden nicht: «Ich hätte kein Tor und keinen Assist ohne meine Mitspieler machen können.» Ein Erfolg der Mannschaft also.
Julien Sprunger hat alle seine 327 Tore und 325 Assists in 850 Partien für Gottéron gebucht. An seinen ersten Assistpunkt erinnert er sich nicht mehr. Aber an sein erstes Tor. «Es war ein 11:0 gegen Basel.» Den Puck habe er heute noch. Es war am 20. Januar 2004 und mit seinem Treffer markierte er das finale 11:0 in der 59. Minute. Seinen ersten Skorerpunkt hatte er in der gleichen Saison am 6. Dezember 2003 zum 2:0 von Philippe Marquis gegen die Lakers gebucht (Schlussresultat 5:1).
Julien Sprunger ist ein unzerstörbarer Romantiker. Unzerstörbar, weil er sich von schweren Blessuren (Gehirnerschütterungen, Knie) erholt hat, die seine Karriere hätten beenden können. Die schwerste im letzten WM-Spiel 2009 in Bern gegen die USA. Die Wirbelsäulen-Verletzung kostete ihn die NHL-Karriere. Er hatte einen unterschriebenen NHL-Vertrag mit den New York Rangers in der Tasche. Er kehrt erst ein halbes Jahr später Ende November 2009 aufs Eis zurück und verliert die halbe Saison.
Der 96-fache Internationale (33 Tore/32 Assists) hätte Meister werden können. Ein gut dotiertes Angebot der ZSC Lions hat er einmal ausgeschlagen. «Wenn ich unbedingt hätte Meister werden wollen, dann hätte ich Gottéron verlassen.» Er ist aus persönlichen Gründen (Familie) geblieben. Wer will, also ein Romantiker. Oder besser: eben einer von Gottéron. Mit Vertrag bis 2023 und er wird Gottéron nicht mehr verlassen. Er hat alle Rückschläge gemeistert und mit Gottéron alle Krisen überwunden. Und er weiss, warum: «Wir haben eine Tradition, wir haben eine Kultur, wir haben eine Identität. Es ist den Menschen nie gleichgültig, wie es um uns steht.»
Der Captain ist mit sich und seiner Karriere im Reinen: «Je ne regrette rien und würde alles noch einmal genau so machen. Ich bin glücklich und dankbar, wie meine Karriere bisher verlaufen ist. Ich bedaure höchstens, dass ich zu spät gekommen bin, um noch mit Slawa Bykow und Andrej Chomutow zu spielen.» Aber er ist rechtzeitig gekommen, um statistisch die Nummer 1 zu werden. Vor Slawa Bykow.
Und der Spielertyp? Julien Sprunger ist der (fast) perfekte Flügelstürmer. Gross (194 cm), kräftig (90 kg), mutig, zäh, schlau und mit einer enormen Reichweite. Er kann die Gegenspieler überlaufen, einschüchtern, in lichten Momenten sogar austanzen und manchmal macht er das mit mehreren im gleichen Spielzug. Seine Karriere verdankt er natürlich seinem Talent. Mit spielerischen Hosenknöpfen macht keiner mehr als 600 Punkte.
Aber Talent ist nur ein Teil. Er ist auch ein Leader. Einer, der hinsteht, wenn es wirklich zählt. Ein enorm belastbarer Leitwolf.
Es gibt eine Szene für die Ewigkeit, die uns eigentlich alles über Julien Sprunger sagt. 1. März 2008. Playoff-Viertelfinal. Das erste Spiel hat Gottéron in Bern 3:5 verloren. Wenn der Titan (Bern ist Qualifikationssieger) gestürzt werden soll (was eigentlich unmöglich scheint), dann muss Gottéron die zweite Partie auf eigenem Eis gewinnen. Der SCB ist schon fast am Ziel. Die Berner führen 17 Sekunden vor Schluss 1:0. Eine Regelwidrigkeit. Hexenkessel. Die Schiedsrichter entscheiden auf Penalty. Gegenstände fliegen von den Tribünen. Eine Eisreinigung wird angeordnet. Julien Sprunger muss minutenlang auf die Ausführung warten. Eine grössere Nervenbelastung ist nicht denkbar. Mehr Spannung, mehr Hühnerhaut, mehr Dramatik sind nicht mehr möglich.
Er lässt SCB-Kultgoalie Marco Bührer keine Chance. 1:1. Verlängerung. Und bereits nach 46 Sekunden legt Julien Sprunger für Benjamin Plüss auf. 2:1. Es ist ein Stich ins Herz des Bären. Gottéron wird diesen Viertelfinal gewinnen.
Meister ist Gottéron, ist auch Julien Sprunger noch nie geworden. Aber was ist schon ein Titel gegen solche magischen Momente. Und wer weiss, vielleicht wird er ja doch noch Meister. «Ein Titel mit Fribourg, ja, davon träume ich immer noch und wenn dieser Traum nicht in Erfüllung gehen sollte, dann ist das eine kleine Enttäuschung. Aber der Traum ist noch nicht vorbei. Wir haben eine neue Arena und ich spüre frische Energie.»
Zeit hat er ja noch. Er wird im Januar erst 35.
Das ist schon nicht schlecht, für einen Spieler der nie Meister geworden ist.
Diese Saison nicht mehr als Tänzer sonder Captain und Kämpfer, robuster den je.
Ich bin ihm dankbar für jedes einzelne Tor und Assist.
Menschlich und spielerisch der Grôsste bei Gottéron seit den Russen.
Merci Captain.