Die Antwort auf alle heiklen Fragen finden wir in zwei Wörtern. «Jesus Chris». So wird der charismatische Kanadier von der Lokalpresse verehrt. Jetzt, nach dem heroischen Scheitern gegen den SC Bern erst recht.
Einerseits ist diese Verehrung mehr als nur berechtigt für den Mann, der Servette 2002 aus der Zweitklassigkeit erlöst, ins gelobte Land des Spitzeneishockeys geführt und dort etabliert hat.
Andererseits ist solche Popularität in der Stadt mit den in der Gesellschaft tief verwurzelten fundamentalistischen protestantischen Lehre von Johannes Calvin («Beten und Arbeiten») gefährlich. Wer zu hoch steigt, kann tief fallen.
Pierre Maudet ist mit dem besten Ergebnis der Geschichte zum Regierungsrat dieses seltsamen Kantons, dieser «freien Republik Genf» gewählt worden. Nun wird seit Monaten daran gearbeitet, den einstigen Polit-Superstar mit Chancen auf einen Bundesratssitz zu stürzen und politisch zu «vernichten». Er war der «Chris McSorley der Genfer Politik».
Chris McSorley wie Pierre Maudet? Im Unterschied zu Pierre Maudet gibt es kein «Material» gegen den Kanadier. Keine Spesenexzesse, keine bezahlten Reisen ins Morgenland und keine Steuergeschichten.
Den neuen Besitzern des Klubs (eine in Genf domizilierte Stiftung) ist ganz einfach seine Machtfülle unheimlich geworden. Wir können auch sagen: Er ist in Genf zu gross geworden.
Wer nach den Gründen fragt, warum Chris McSorley als Coach abgesetzt werden soll, bekommt unter Wahrung der Anonymität allerlei Antworten, die auf eine reiche Intrigenkultur hinter seinem Rücken schliessen lassen. Er könne die jungen Spieler nicht weiterentwickeln. Das sei ein Problem, jetzt, wo man doch so viele hoffnungsvolle Talente wie Roger Karrer (22) und Marco Miranda (20) aus Zürich geholt habe. Es fehle ihm das Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Spielern. Und so weiter und so fort. Eindeutige Zeichen, dass jene Spieler, die zu wenig zum Zuge kommen, fleissig hinter dem Rücken des Trainers mit dem Präsidenten der Stiftung und des Klubs und den Verwaltungsräten korrespondieren.
Angestrebt wird eine Splittung der Macht. Eine Trennung von Kirche und Staat sozusagen wie sie der Calvinismus lehrt. Also Schluss mit der Ämterkumulation General Manager, Sportchef und Coach.
Aber Chris McSorley ist «unteilbar» wie einst Napoléon. Gerade diese umfassenden Vollmachten sind der der Grund, warum es ihm gelungen ist, in Genf die bestfunktionierende Sportfirma des Welschlandes aufzubauen. Wenn sich die Verwaltungsräte und deren Entourage ins Tagesgeschäft einmischen, dann wird Servette schnell ein «unführbares», typisch welsches Operetten-Sportunternehmen wie Gottéron.
Am Tag nach dem grandiosen Scheitern gegen den SCB im längsten Spiel unserer Hockeygeschichte ist Chris McSorley in der Stadt populär wie nie. «Jesu Chris Superstar». Und doch weiss er nicht, ob er nächste Saison noch an der Bande stehen wird. Er sagt: «Die Chancen stehen 50:50. Die Situation ist ungefähr gleich wie vor zwei Jahren.»
Vor zwei Jahren haben die damaligen neuen nordamerikanischen Besitzer Chris McSorley als Cheftrainer abgesetzt, mit einem Rentenvertrag besänftigt und als Sportdirektor ohne Kompetenzen ins Büro verbannt. Dort ist er nach nur einem Jahr entwichen.
Nach einem erneuten Besitzerwechsel ist er im letzten Sommer wieder an die Macht gekommen und er hat diese Saison ein Wunder vollbracht: Mit einer Mannschaft, die nominell nicht viel besser ist als die «Miserablen» aus Rapperswil-Jona hat er die Playoffs erreicht und den SC Bern über sechs Spiele herausgefordert.
Die Situation ist delikat: Chris McSorley hat bei den damaligen nordamerikanischen Besitzern seinen Anteil am Unternehmen gegen einen Vertrag eingetauscht, der ihm ohne exakte Umschreibung seiner Funktion bis zum Jahr 2024 jährlich rund 800'000 Franken Salär sichert. Er sagt, das könne er so nicht bestätigen. «Aber der Vertrag läuft lange und ist juristisch wasserdicht.»
Chris McSorley ganz wegzuschicken würde gegen vier Millionen kosten. Das wäre für die Stiftung, der jetzt Servette gehört, kein Problem. Aber die Popularität von «Jesus Chris» ist ein fast unlösbares.
Wenn Chris McSorley abgesetzt wird und die Mannschaft unter neuer Führung in eine Krise rutscht, dann genügt sein Erscheinen in der Arena, um dem neuen Coach den Sauerstoff zu entziehen. Niemand hätte im Schatten Napoléons Frankreich regieren können. Niemand kann Servette im Schatten von Chris McSorley führen.
Der Unterschied zur Situation vor zwei Jahren: damals wusste Chris McSorley, dass seine Verbannung nicht lange dauern wird. Die nordamerikanischen Besitzer befanden sich bereits auf dem Rückzug und seine Rückkehr unter neuen Herren war nur eine Frage der Zeit. Kein Wunder also, dass er sich ruhig verhielt, jeden Tag viel «Kreide frass», nicht intrigierte und mit Engelszungen redete. Seine Verbannung ins Büro dauerte ziemlich genau gleich lang wie einst die Verbannung von Napoléon auf Elba, von der er im Triumphzug zurückkehrte. Nämlich zehn Monate.
Aber jetzt ist nicht mehr mit einem Besitzerwechsel zu rechnen. Nun droht Chris McSorley bei Servette eine Verbannung ins Büro bis zum Ablauf seines Vertrages. Sozusagen wie die Verbannung von Napoléon auf St. Helena. Mit einem Unterschied: Der grosse Korse konnte nach der Abreise auf St. Helena keine neue Herausforderung mehr suchen. Chris McSorley könnte es sehr wohl.
Seine Widersacher gehen davon aus, dass er im gesetzten Alter 57 Jahren die Stadt nicht mehr verlassen wird, in der er sein Glück gefunden hat und die seine neue Heimat geworden ist. Viel zu gut hat er sich mit seiner Familie eingelebt und sicherlich mag doch gerade seine charmante Gattin die Lebensqualität nicht missen und nicht mehr aus dieser wunderbaren Stadt wegzügeln. Also wird er sich ins Büro zurückziehen und alles, was künftig rund um den Klub passiert, mit freundlichen Worten kommentieren, Ruhe geben und sicher nicht nach Lausanne oder sonstwohin gehen.
Wenn sie sich da nur nicht täuschen. Chris McSorley sagt: «Meine Frau ist sehr flexibel…»
Und man kann ihm nur Respekt zollen, was er aus GSHC gemacht hat.
Ihn mit Napoleon zu vergleichen: Eher gewagt.
Ihn mit Maudet zu vergleichen: Unter seiner Würde.