Favre verfolgt das Turnier im Land seines künftigen Arbeitgebers mit regem Interesse, der Bezug zur Gruppe A mit dem Gastgeber und der SFV-Auswahl ist selbstredend gross. «Les Bleus» kennt der Romand bis ins Detail, im Team der Schweizer verhalf er Granit Xhaka in Mönchengladbach zu jenem internationalen Status, von dem künftig Arsenal profitieren wird.
Zweimal innerhalb von fünf Tagen fand die «Equipe Tricolore» in den Schlussminuten den Ausweg aus einer ungemütlichen Situation. Favre interpretiert die überraschend komplizierten Spielfilme gegen die wesentlich tiefer eingeschätzten Rumänen und Albaner primär als Ergebnis der enormen Erwartungshaltung: «Man spürt die Last auf den Spielern deutlich, die Resultate sagen viel aus.»
Für die nationale Fussball-Meinungsinstanz «L'Equipe» sind die Einheimischen «die Könige der Spannung», in den Augen von Beobachter Favre haben sie vor allem «etwas Mühe, das Spiel zu gestalten». Wobei die beiden ziemlich unbeschwerten Kontrahenten die Aufgabe ihrerseits aufgebläht hätten: «Sie waren sehr gut organisiert und hatten wenig bis nichts zu verlieren.»
Neben zwei, drei Problemen im defensiven Bereich ortet Favre die massgebliche französische Herausforderung von Trainer Didier Deschamps im vorderen Teil der Aufstellung: «Es ist angesichts des offensiven Angebots nicht einfach, die richtige Balance zu finden.» Er habe Kingsley Coman (Bayern München) oder Anthony Martial (Manchester United) – «die Qual der Wahl», nennt Favre das Luxusproblem und schränkt ein: «Aber sie sind erst 19 und 20, das sollte man nie vergessen bei der Beurteilung.»
Nach der nur halbwegs überzeugenden Performance beim Auftakt in Paris hatte Deschamps eine Systemumstellung ohne Paul Pogba und Antoine Griezmann verordnet, von welcher er zur Pause wieder abrückte. «Gegen die Schweiz erwarte ich Frankreich wieder in einem 4-3-3», sagt Favre im Gespräch mit der Nachrichtenagentur SDA.
«In dieser Formation kommt ihre offensive Klasse mehr zur Geltung.» Zumal die bislang couragierten Schweizer kaum im Sinn haben dürften, von ihrer konstruktiven Linie abzuweichen. Favre erhofft sich eine spektakuläre Begegnung zweier ambitionierter Teams: «Ich rechne nicht mit einem 0:0.»
Denkt der Nice-Coach an den sonntäglichen Gipfel in Lille, kommen die Gedanken des langjährigen Trainerstrategen zum Vorschein: «Es geht bereits darum, den Achtelfinal vorzubereiten und die beste Lösung zu finden.» Personelle Experimente hält der frühere Gladbacher Trainer nicht für opportun: «Der gegenseitige Respekt ist gross, jeder will zum Schluss der Gruppenphase etwas zeigen – der letzte Eindruck ist psychologisch nie zu unterschätzen.»
Ob die aktuelle Mannschaft in der Lage ist, einen ähnlichen Weg wie die goldene Generation um Zinédine Zidane zu beschreiten, kommentiert Favre zurückhaltend: «Vergleiche mit der grandiosen 98er-Equipe sind schwierig. Und bis jetzt hat sie sich eher schwergetan.»
Deschamps hingegen traut er zu, bereit zu sein für den Coup. Der «Sélectionneur» mit der kühlen Aura des unerbittlichen Generals gilt als gnadenlos erfolgsbesessen. «Der Sieg zu jedem Preis», titelte die Zeitung «L'Equipe» in einem Porträt; keine leeren Parolen, von seinen 152 Länderspielen als Trainer und Akteur hat er lediglich 23 verloren.
«Er war schon als Spieler ein Leader mit viel Charakter und immer ganz weit oben in der Hierarchie», sagt Favre über den Mann, der in Bayonne an der rauen Atlantikküste aufgewachsen ist. «Und bei Juventus lernte er die Kultur des Siegens kennen.» Die Turiner DNA ist sein Merkmal geblieben.
Im legendären Weltmeister-Team von 1998 zählt Favre ihn zu den Grössten: «Er war im Prinzip der rechte Arm von Aimé Jacquet und hat auf dem Rasen wie ein Chef geführt.» Das sechs Jahre nach dem WM-Fiasko von Knysna (Südafrika) wieder ordentliche Image in der Bevölkerung habe der französische Verband auch der Disziplin Deschamps' zu verdanken. (sda)