Fallrückzieher sind für Kaly Sène das «Normalste von der Welt». Schon als Kind übt er sich in dieser spektakulären Schusstechnik. Auch auf dem Teer der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Nachdem der heute 20-Jährige vor zwei Wochen bei seinem Hattrick gegen St. Gallen per Seitfallzieher zum 2:0 trifft, bekommt er wegen der Schönheit des Tores unzählige Gratulations-Nachrichten geschickt. Doch Sène sagt trocken: «Von meinen Freunden war keiner überrascht.»
Überraschend ist, wie der Senegalese bei GC durchstartet. Acht Tore und zwei Assists in elf Spielen hat er seit seinem Leih-Wechsel vom FC Basel im Sommer für die Hoppers erzielt. «Trainieren ist schön und gut. Aber echten Fortschritt kannst du nur machen, wenn du Spiele absolvierst», sagt Sène.
Bei GC schenkt ihm Trainer Giorgio Contini das, was er beim FC Basel zuvor weder unter Ciriaco Sforza noch unter Patrick Rahmen bekam. Vertrauen. «Ich erhebe keinerlei Vorwürfe gegenüber Basel. Jeder Trainer hat Spieler, auf die er setzt. Ich gehörte sowohl bei Sforza als auch Rahmen nicht dazu», erklärt Sène. Dann fährt er sich durch seine Rasta-Haare und sagt: «Ich war es immer gewohnt, zu spielen. Darum war die Situation sehr schwierig für mich.»
Schon in Senegal spielt der kleine Kaly pausenlos. «Ich hatte eine schöne Kindheit, in der mir meine Eltern nie etwas verboten haben», sagt Sène. Während andere Kinder vom Fussballplatz geholt werden, weil ihre Schulnoten nicht gut genug sind, darf Sène bleiben. Wenn er dann am Abend zurück ins Generationenhaus kommt, wo er mit Oma, Mama, Papa, Onkel und Geschwistern lebt, ist Sène zufrieden. Klassenbester ist der Filou in der Schule trotzdem: «Ich musste nicht lernen, aber ich war trotzdem gut, weil ich Dinge schnell verstand.»
Seine Geschichte ist nicht die eines in Armut Aufgewachsenen, der in Europa sein Glück sucht. Dass Sène mit 15 nach Turin zieht, liegt vielmehr an seiner Mutter. Sie bekommt Sène im jungen Alter von 18 Jahren und überlässt der Grossmutters die Erziehung. «Ich nenne Oma und Mama Maman», sagt Sène. Als er zehn Jahre alt ist, lässt ihn seine biologische Mutter zurück und zieht mit ihrem neuen Freund nach Italien. «An diesem Tag habe ich viel geweint», sagt Sène. Doch mit 15 folgt er ihr. Nicht weil er Afrika verlassen will, sondern weil er in Italien grössere Chancen sieht, Fussballprofi zu werden.
Zwar wettet Kaly Sène schon vor dem Umzug mit einem Jugendfreund, dass er eines Tages für Juventus spielen wird. Doch nach der Ankunft in Italien meldet er sich erstmal bei einem Quartierklub an. Das «Amusement» stand auch hier im Vordergrund. Erst als er als 16-Jähriger bei den Erwachsenen in der fünfthöchsten Liga Tor um Tor schiesst, werden grössere Klubs auf ihn aufmerksam und so landet Sène im Januar 2019 – drei Jahre nach seiner Ankunft – in der U19 von Juventus. Immer wieder darf er mit den Stars um Cristiano Ronaldo trainieren, doch nach anderthalb Jahren will Sène weiter. In einer ersten Mannschaft bei den Erwachsenen spielen lautet das Ziel.
Den FC Basel kennt Kaly Sène bevor das Angebot eintraf nicht. «Fussball schauen langweilt mich. Da schlafe ich ein» sagt er und gibt zu, dass er keinen einzigen Spieler und keinen Klub in der Schweiz kannte. «YB habe ich schonmal gehört, weil die in der Champions League gegen Juventus gespielt haben. Aber das Logo hätte ich nicht erkannt.» Doch nachdem er sich bei Lugano-Spieler und Freund Kevin Monziallo über die Schweiz und den FCB erkundigt hat, sagt Sène zu.
Dass der Wechsel wegen der ausbleibenden Arbeitsbewilligung wegen zu weniger Profispiele zur Odyssee wird und Sène kurzerhand für ein halbes Jahr in Zypern bei Omonia Nikosia parkiert wird, ahnt er da noch nicht. «Wir dachten, Basel sei ein guter Startpunkt für meine Karriere. Dass es anders gekommen ist? Egal! Dafür bin ich erwachsen geworden», sagt Sène, der in Zypern erstmals von der Familie getrennt lebt. Die Sprachbarriere und die Pandemie verkomplizieren die Integration, doch Sène will lieber die positiven Dinge thematisieren und nennt die ersten Einsätze in der Europa League und in einer Profiliga und die Entwicklung der Persönlichkeit.
Doch sowohl in Zypern als auch beim FC Basel fehlt Kaly Sènes wichtigstes Lebenselixir. Er darf nicht spielen. Ungerecht behandelt fühlt er sich nicht. Dass weder Sforza noch Rahmen auf ihn setzen, kann der Stürmer sogar nachvollziehen. Beiden attestiert er ein gutes Verhältnis und trotzdem schlägt die wenige Einsatzzeit auf die Stimmung.
Die ist erst seit seinem Wechsel zu GC wieder gut. FCB-intern wurde lange und hart diskutiert, ehe man den Flügelstürmer mit Kaufoption bis Sommer 2022 auslieh. Rahmen wollte ihn gerne behalten und sagt: «Wir hatten nicht das Gefühl, dass er uns nicht helfen kann. Aber wir hatten auf seiner Position genug Spieler im Kader. Dass Kaly Qualitäten hat, wenn er das Vertrauen bekommt und spielt, haben wir auch so bewertet.» Ob der Leistungsexplosion seines Schützlings ist er nicht überrascht.
«Vielleicht passt mein Spielstil besser zum Konzept von GC», sagt Sène, der sich über seine Zukunft keine Gedanken machen will. Auch die Rückkehr ins Joggeli als gegnerischer Spieler sei nichts Spezielles. Sein Motto: Kaly cool. «Ich bin wie ein Löwe. Ich chille im normalen Leben, rede nicht viel. Aber wenn es um etwas geht, werde ich zum Jäger auf Beutesuche», erklärt er und fügt an: «Ich mag wilde Tiere. Löwen, Tiger… Nur Reptilien mag ich nicht. Schlangen sind etwas eklig.» Wäre es mit der Fussballkarriere nichts geworden, wäre Tierarzt der Plan B gewesen. Doch geschnuppert hat Sène in diesem Bereich nie. «Ich war ziemlich sicher, dass Plan A klappt», sagt er zum Ende des Gesprächs.
Kaly Sène muss jetzt nach Hause und PlayStation spielen. «Ich bin alleine hier, die PlayStation leistet mir Gesellschaft. Dort spiele ich mit meinen Freunden aus dem Senegal und Italien und so vergeht die Zeit wie im Flug», sagt er. Und auch in der virtuellen Welt setzt er gerne zum Fallrückzieher an. (aargauerzeitung.ch)