Pünktlich heisst bei ihr ganz pünktlich. Wer ein Gebäude betritt, nimmt die Kopfbedeckung ab. Und deine Flasche ist deine Flasche, und die lässt du nicht rumliegen. So fasste vor drei Jahren eine ehemalige Mitspielerin von Corinne Diacre deren Grundsätze zusammen.
Daran hat sich nichts geändert, und mit dieser knallharten, oft auch sturen Haltung hat sich die Trainerin des französischen Nationalteams in der Heimat viele Gegner geschaffen. Im EM-Halbfinal gegen Deutschland spielt sie deshalb heute auch um ihren eigenen Job.
Auch in Personalentscheiden kennt die bald 48-Jährige aus einem Vorort von Lille an der Grenze zu Belgien kein Pardon. Grosse Namen zählen bei ihr nicht viel. Nach der Heim-WM 2019, wo die «Bleues» im Viertelfinal an den übermächtigen USA (1:2) scheiterten, wagte Captain und Spielmacherin Amandine Henry Kritik an der – aus ihrer Sicht – «granit-harten und taktlosen» Herangehensweise von Diacre. Diese verzieh das Aufbegehren nicht und verbannte Henry aus dem Nationalteam – in einem Telefonanruf von 14 oder 15 Sekunden, wie diese später erzählte. «Das werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen. Ich war schockiert.»
Henry ist nicht der einzige Altstar, der von Diacre nach deren Amtsantritt aussortiert wurde. Unter anderem sind auch Eugenie Le Sommer (175 Länderspiele, 86 Tore), Gaëtane Thiney (163, 58) oder Goalie Sarah Bouhaddi (149) nicht mehr dabei. Alle über 30-jährig zwar, aber noch sehr konkurrenzfähig und die meisten mit Lyon noch regelmässig Sieger in der Champions League. Einzig die Abwehrchefin Wendie Renard konnte sich von der alten Garde halten, wurde aber zwischenzeitlich ebenfalls als Captain abgesetzt.
Es verwundert nicht, dass sich Diacre damit in der französischen Öffentlichkeit der Kritik aussetzt, zumal auch der zu defensive Spielstil moniert wird und sie wenig tut, um sich mit den Medien gutzustellen. Dabei gibt es gute Argumente für Diacres Vorgehen.
Die grosse Generation gehörte seit mehr als einem Jahrzehnt immer zu den Mitfavoritinnen, eine Medaille gab es – im Gegensatz zu weit weniger gut bestückten Teams wie Österreich, Finnland oder Spanien – aber nie. An Europameisterschaften scheiterte Frankreich seit 2009 dreimal in Folge im Viertelfinal, ebenso bei den letzten beiden Weltmeisterschaften sowie den Olympischen Spielen 2016. 2011 und 2012 resultierte bei der WM und bei Olympia in London jeweils der 4. Platz.
An der fachlichen Kompetenz von Corinne Diacre gibt es kaum Zweifel. Als Verteidigerin war sie Captain des Nationalteams und kam auf 121 Länderspiele – allerdings in einer Zeit, in der man noch nicht zur Weltelite gehörte. Ab 2014 trainierte sie drei Saisons Clermont Foot in der zweiten Division – als erste Frau bei einem Männer-Profiteam in einer der obersten Ligen in Europas Fussball.
Aus dieser Zeit hat sie durchaus auch Fürsprecher. Zwar stieg das Team erst nach ihrem Wechsel zum Verband in die Ligue 1 auf, doch ihr Nachfolger Pascal Gastien betonte Diacres hervorragende Arbeit als Grundstein für den Erfolg. Und ihr ehemaliger Stürmer Gaëtan Laborde, heute bei Rennes unter Vertrag, blickt gerne auf seine Zeit als Leihspieler bei Clermont zurück. «Ich war in einer Phase des Zweifelns, und sie hat meine Karriere neu lanciert. Sie bringt die Spieler vorwärts, und darum geht es doch letztlich.»
Bei einer Frau in einer solchen Position stellt sich immer die Frage, ob sie härter kritisiert wird als dies bei einem Mann der Fall wäre. Corinne Diacre gibt aber auch selber zu, dass sie Schwächen in der Kommunikation habe. «Plaudereien sind nicht mein Ding, aber ich habe mit meinem Kommunikationsberater viel daran gearbeitet.» Der Unterschied zu ihrem deutschen Pendant, der ehemaligen Schweizer Teamchefin Martina Voss-Tecklenburg, ist allerdings frappant. Fast scheint es, als ob die Klischees des disziplinierten, aber etwas sturen Deutschen und des lebenslustigen, aber etwas chaotischen Franzosen auf den Trainerposten vertauscht wäre.
Auf dem Platz liefern beide bis jetzt hervorragende Arbeit ab. Deutschland tanzte mit vier Siegen (und 11:0 Toren) in die Halbfinals. Die Französinnen gaben einzig im letzten, für sie bedeutungslosen Gruppenspiel gegen Island einen Punkt ab. Ihr Viertelfinal-Trauma überwanden sie mit einem hart erkämpften, aber hoch verdienten 1:0 nach Verlängerung gegen den Titelverteidiger Niederlande.
Es war wohl ein Sieg ganz nach dem Geschmack der Trainerin. Diszipliniert bis zum Ende, defensiv sehr solide, dass es offensiv ein bisschen an Kreativität fehlte, wird sie verkraften. «Erwartet einfach nicht, dass sie sich ändert. Das wird nie passieren», schrieb Thomas Guerbert, ein anderer ehemaliger Spieler, über Corinne Diacre.
In Milton Keynes wird sich zeigen, ob diese Rechnung aufgeht. Den Final hatte Diacre als Mindestziel ausgegeben. Gelingt dies nicht, dürfte auch ihr Stuhl wackeln. Eine «Iron Lady» muss zwingend Erfolg haben, um ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen. (abu/sda)