Es war bereits 23.30 Uhr, doch im Juventus Stadium war noch immer Hochbetrieb. Die Ajax-Fans harrten nach dem 2:1-Sieg beim italienischen Serienmeister und dem damit verbundenen Halbfinal-Einzug in der Champions League noch lange in ihrem Block aus. Aus gutem Grund: Zur neuen Ajax-Tradition gehört es nämlich, dass die Spieler nach den obligaten Interviews und den ersten Kabinenfeierlichkeiten noch einmal auf den Platz kommen, um sich bei den mitgereisten Anhängern für die Unterstützung zu bedanken.
TITANS IN TURIN! 🍕#UCL #juvaja pic.twitter.com/9mG0gm1Hs8
— AFC Ajax (@AFCAjax) 16. April 2019
Es wurde getanzt und gesungen und am Ende zeigte Sportdirektor Marc Overmars, der zusammen mit Vorstandsboss Edwin van der Sar ins leere Stadion stapfte, vor der Kurve gar noch den «Diver».
ABSOLUTE SCENES!!! 🏆#UCL #juvaja pic.twitter.com/XnmLWdy6Lj
— AFC Ajax (@AFCAjax) 16. April 2019
Nicht nur die alten Legenden, die 1995 den einzigen Champions-League-Titel der Klubgeschichte gewannen, sondern vor allem das neue Ajax begeistert spätestens seit gestern die Fussball-Welt. Von überall auf der der Welt trudelten Gratulationen ein. Ehemalige Spieler, aber auch aktuelle Konkurrenten freuten sich mit dem Underdog, der nach Real Madrid den nächsten Hochkaräter aus der Königsklasse genommen hat.
AJAX!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!#UCL #juvaja pic.twitter.com/300hTFvYVO
— Rafael van der Vaart (@rafvdvaart) 16. April 2019
Yyyeeeeaaaahhhhhhhhh @juventusfc vs @AFCAjax 1-2 come on Guys #WZAWZDB ❌❌❌
— Patrick Kluivert (@PatrickKluivert) 16. April 2019
👏🏼👏🏼👏🏼 FOOTBALL ⚽ Bravo @AFCAjax
— Antoine Griezmann (@AntoGriezmann) 16. April 2019
Congratulations @AFCAjax you are amazing guys 👏👏👏👏
— Carles Puyol (@Carles5puyol) 16. April 2019
Es ist offensichtlich: Dieses Ajax ist das Beste, was dem Fussball gerade passieren konnte. Aus folgenden Gründen:
Totaler Fussball – das war ein neues offensives Spielsystem mit dem Ajax Amsterdam zu Beginn der 1970er-Jahre unter Rinus Michels den Fussball revolutionierte und dominierte. Daran orientiert sich das neue Ajax und zeigt sozusagen den «Voetbal Totaal 3.0».
Zwar sah die Mannschaft von Erik ten Hag in Turin in den ersten 20 Minuten kaum einen Ball, wirkte nervös und wurde hinten reingedrängt, nach der ersten gelungenen Aktion über Dusan Tadic, David Neres und Donny van de Beek spielte Ajax aber plötzlich wieder so, wie man das zuletzt so oft gesehen hat: Frisch, fröhlich, furchtlos, entfesselt und unbeschwert, leichtfüssig, schnell und unberechenbar. Alle griffen zusammen an, alle verteidigten zusammen. Das hätte auch Rinus Michels und Johann Cruyff gefallen. Ajax spielt momentan so, wie alle gerne spielen wollen, sich aber niemand getraut.
Bis zur Pause hatten die «New Kids on the Block», wie das neue Ajax gerne genannt wird, 53 Prozent Ballbesitz – und das auswärts bei Juventus Turin. Nach Wiederbeginn wurde die «Alte Dame» dank einem Übergewicht im Mittelfeld dann regelrecht an die Wand gespielt. Wie schon in Madrid beim Coup gegen Real spielten sich die Holländer Chancen im Minutentakt heraus und es war nur eine Frage der Zeit, bis das 2:1 fallen würde. In der 67. Minute fiel es.
«Das ist Ajax. So wollen wir Fussball spielen. Das war heute fantastisch», freute sich van der Sar. Mit seinem an die Moderne angepassten totalen Fussball hat Ajax in dieser Saison wettbewerbsübergreifend bereits 155 Tore erzielt und in der Königsklasse (inklusive Qualifikation) Sturm Graz, Standard Lüttich, Dynamo Kiew, Bayern München, Benfica Lissabon, AEK Athen, Real Madrid und nun Juventus in die Knie gezwungen.
Und wer so spielt, muss sich auch vor den möglichen Halbfinal-Gegnern Manchester City oder Tottenham Hotspur nicht verstecken ...
Ajax' Spielweise ist definitiv ein Augenschmaus, noch erfreulicher ist aber ein Blick auf die Mannschaft, die diesen erfrischenden Offensivfussball zelebriert. Mit Joël Veltman, Matthijs de Ligt, Daley Blind, Noussair Mazraoui, Donny van de Beek stammen fünf Spieler, die gestern in der Startformation standen, aus der eigenen Jugend. Im modernen Fussball eine Ausnahme-Erscheinung.
Die Ajax Academy zählt seit Jahren zu den besten Fussball-Schulen der Welt. Im topmodernen Trainingszentrum «De Toekomst», das 1996 mit dem Geld des Champions-League-Triumphs entstanden ist, werden beste Voraussetzungen geschaffen, die Entwicklung junger Talente optimal voranzutreiben.
Eine grosse Scoutingabteilung hält in einem Umkreis von 60 bis 80 Kilometern mit Hilfe des TIPS-Models (Technik, Intelligenz, Persönlichkeit, Schnelligkeit) Ausschau nach jungen Talenten. Im Gegensatz zu anderen bekannten Fussball-Akademien besitzt Ajax kein Internat, da die jungen Talente möglichst lange bei ihrer Familie leben sollen. In Ausnahmefällen werden Gastfamilien gesucht, welche die jungen Fussballer aufnehmen.
Alle Nachwuchs-Teams spielen wie die Profis im traditionell holländischen 4-3-3-System, damit die Spieler später keine Probleme bei der Anpassung haben. Ziel ist es, jedes Jahr einen bis zwei Spieler ins Profikader zu bringen. Dort sollen die Youngsters an der Seite von einigen erfahrenen Routiniers zum kompletten Fussballer reifen.
Momentan passt das perfekt zusammen: «Wir haben eine gute Mischung und wir glauben an das, was wir tun. Die Jungs haben einfach eine unglaubliche Qualität», sagt der 29-jährige Daley Blind, der gemeinsam mit dem jungen De Ligt die Innenverteidigung zusammenhält.
Auf die Jugend setzt Ajax auch bei den Transfers. Nur in Ausnahmefällen investiert der Klub in fertig ausgebildete Spieler, ansonsten grast man bei der Konkurrenz junge Talente ab, die dann fertig ausgebildet werden. So geschehen bei Frenkie de Jong (Willem II Tilburg), Daley Sinkgraven (Heerenveen), David Neres (FC Sao Paulo), Hakim Ziyech (Twente Enschede) oder Torhüter Andre Onana (Barcelona).
Bei der Preistreiberei im Transferwesen macht der niederländische Rekordmeister nicht mit. Teuerster Neuzugang ist nach wie vor der heutige YB-Spieler Miralem Sulejmani, der im Sommer 2008 für 16,25 Millionen Euro vom SC Heerenveen kam. Im aktuellen Kader stehen mit Daley Blind, Dusan Tadic, Hakim Ziyech und David Neres nur vier Spieler, die mehr als 10 Millionen Euro gekostet haben.
Onana: €150k
— Marc Geschwind (@MarcGeschwind) 17. April 2019
Veltman: Academy
de Ligt: Academy
Blind: Academy (Sold for €17.5m, bought back for €16m)
Mazraoui: Academy
Frenkie: €1
Schone: €0
Van de Beek: Academy
Ziyech: €11m
Tadic: €12m
Neres: €12m
Ajax XI: ~€50m
Ronaldo: €117m
Money ain't everything. pic.twitter.com/XAJyK2JNjD
Ob das so bleibt? Im Sommer droht nach den Erfolgen dieser Saison der grosse Ausverkauf. Frenkie De Jongs Transfer zum FC Barcelona ist bereits fix, 75 Millionen Euro zahlen die Katalanen für den 21-jährigen Mittelfeldspieler. Gerechnet wird auch mit dem Abgang des 19-jährigen Captains Matthijs de Ligt, sein Marktwert: 70 Millionen Euro. Und auch Donny van de Beek, Hakim Ziyech, David Neres und Dusan Tadic haben sich mit ihren starken Champions-League-Auftritten auf die Wunschzettel der Topklubs katapultiert.
Bleibt zu hoffen, dass Sportchef Overmars so weise mit seinem Geldbeutel umgeht, wie bis anhin, und der Ajax-Philosophie trotz erheblichem Substanz-Verlust treu bleibt.
Barcelona, Real Madrid, Atlético Madrid, Bayern München, Juventus Turin, Liverpool Manchester City und wie sie alle heissen – seit der Saison 2004/05, als es das Los mit dem PSV Eindhoven gut meinte, stammten die vier Champions-League-Halbfinalisten stets aus den fünf Top-Ligen Europas. Ajax bringt nun endlich wieder etwas frischen Wind in die Belétage des europäischen Spitzenfussballs.
In Zeiten von Oligarchen und milliardenschweren Scheichs musste schon befürchtet werden, dass die immer gleichen Klubs die Königsklasse über Jahre unter sich aussspielen werden, bis dann endlich die ominöse europäische Super-Liga gegründet wird, wo die reichsten Klubs dann ohnehin nur noch gegeneinander spielen.
Die Grossen werden grösser, die aufstrebenden Kleinen von den Grossen kleingekauft. Ajax, der Lieblingsklub vieler Fussball-Liebhaber, hat nun hoffentlich so manchem Klubboss die Augen geöffnet, dass kleine Gegner, die attraktiven Fussball spielen, vielleicht doch nicht so schlecht fürs Geschäft sind, wie gedacht.
im Sommer 2019 heisst es dann
"Das Imperium schlägt zurück" wenn Ajax von PSG, Juve, Real, Barca, Bayern und Manchester City/United leider leergekauft wird..