Es war ein langer, steiniger Weg, den Memphis Depay aus Rotterdams Unterwelt bis hierhin bewältigt hat. Damals, 2010, so schreibt der heute 27-Jährige in seiner 2019 erschienenen Biografie «The Heart Of A Lion», spielte die Niederlande in Südafrika um den Einzug ins WM-Finale. Er schaut der Nationalmannschaft im Fernsehen zu. Vor ihm auf dem Tisch: ein Kilogramm Kokain.
Heute ist Depay der unangefochtene Schlüsselspieler der «Elftal» und führte die Niederländer mit viel Engagement und einem Treffer in den ersten beiden Spielen vorzeitig in den Achtelfinal. Es stellen sich also zwei Fragen: Wie gelangte der damals 16-jährige Memphis überhaupt in Rotterdams Unterwelt – und wie entkam er diesen Kreisen und wurde zu einem der aufregendsten Fussballer unserer Zeit?
Um die erste Frage beantworten zu können, braucht es einen gehörigen Zeitsprung, zurück in die Jahre um die Jahrtausendwende.
Depay wird als Sohn eines ghanaischen Flüchtlings und einer (weissen) niederländischen Mutter im 8'000-Seelen-Örtchen Moordrecht, 20 Kilometer nordöstlich von Rotterdam, geboren. Seine Eltern lernten sich am Rotterdamer Hauptbahnhof kennen und verliebten sich schlagartig ineinander. Sieben Jahre nach der schicksalhaften Begegnung kommt Memphis auf die Welt. Die Bilderbuch-Familiengeschichte scheint perfekt zu sein. Doch die Idylle hält nicht lange an.
Depays Vater holt zwei leibliche Kinder, die er aus einer früheren Beziehung in Ghana hat, zu sich nach Moordrecht – und kehrt Memphis und seiner Mutter Cora kurz vor dessen vierten Geburtstag den Rücken zu. Obwohl Depay senior mit seinen beiden anderen Kindern nur ins benachbarte, fünf Kilometer entfernte Gouda zieht, wird Memphis seinen Vater im Laufe seiner Kindheit kaum noch zu Gesicht bekommen. Der Grund, warum seine Trikots bis heute ausschliesslich seinen Vornamen zieren.
Memphis' Mutter heiratet einige Zeit später ein zweites Mal. Der neue Gatte, ein Nachbar aus Moordrecht, ist bereits zehnfacher Vater. Memphis teilt sich ein Zimmer mit mehreren Stiefgeschwistern, die ihn mit blankem Hass strafen. Der Grundschüler wird mit Schlägen, Tritten, rassistischen Kommentaren traktiert, eine Kneifzange kommt ebenso zum Einsatz wie ein Messer. Auch Cora wird von ihrem neuen Mann geschlagen. 18 Monate brauchen sie, um dieser Hölle zu entfliehen.
In dieser Zeit entwickelt Memphis soziale Auffälligkeiten. Weil er auch in der Schule zum Opfer von Gewalt und Mobbing wird, versteckt er sich den Grossteil der Zeit unter seinem Tisch, Lehrer kommen nicht an ihn heran, Psychologen schweigt er konsequent an. Mutter Cora weist sich in ein Pflegeheim im Norden der Niederlande ein, um das Erlebte zu verarbeiten. Memphis, der sich in der Zwischenzeit einer Strassengang angeschlossen hat, kommt in die Obhut seiner Grosseltern mütterlicherseits.
In seinem Grossvater, einem glühenden Ajax-Fan, findet er endlich die Vertrauensperson, die er seit dem Abschied des Vaters gesucht hat. Er ist es, der ihn beim gemeinsamen Angeln zur Ruhe bringt und ihn ermutigt, sein Fussballspiel auf ein höheres Level zu heben. Memphis wird aufgrund seiner Fähigkeiten auf den Strassen Moordrechts längst nur noch «Kluivert» genannt. Wie auch der ehemalige niederländische Nationalstürmer ist Memphis schon im jungen Alter ein fintenreicher, gradliniger Torjäger, der seinen Gegner auf einem Bierdeckel ausdribbeln kann, nur um den Ball dann unangekündigt und mit Vollkaracho ins Tor zu dreschen.
Memphis wechselt im Alter von elf Jahren zu Sparta Rotterdam, einem für seine herausragende Jugendarbeit bekannten Liftklub im niederländischen Profifussball. Er überragt seine Teamkollegen und Gegner sportlich, nach nur drei Jahren folgt der nächste Wechsel, zum Grossklub und einstigen Europacup-Sieger PSV Eindhoven. Gerade als es schien, Memphis habe sich gefangen, wird er erneut aus seinem Umfeld gerissen. Die Strecke Moordrecht-Eindhoven beträgt über 120 Kilometer, anfangs legt er sie mit dem Zug zurück, täglich insgesamt 14 Stunden von Tür zu Tür. Dass dies keine Dauerlösung ist, muss auch Memphis eingestehen und zieht zu einer Gastfamilie nahe des PSV-Geländes.
Doch der Teenager vermisst Moordrecht und seine Grosseltern. Er konsumiert Cannabis gegen den Schmerz, gerät immer tiefer in die Drogenszene, bis er plötzlich selbst zu dealen anfängt, in Eindhoven, Moordrecht und Rotterdam. Memphis' Fussballkarriere, noch nicht einmal richtig angefangen, hängt am seidenen Faden. Womit der Ausgangspunkt für die Beantwortung der zu Beginn gestellten zweiten Frage erreicht ist: Wie wurde aus dem im Milieu verstrickten Problem-Jugendlichen ein 65-facher niederländischer Nationalspieler? Einen entscheidenden Anteil daran trägt Joost Leenders.
Der Personal- und Mental-Coach wird von der PSV Eindhoven eingestellt, um Memphis zurück in die Spur zu führen. Leenders beobachtet über Wochen die angespannte Situation und erkennt, dass Memphis kein Spieler ist, den das wütende Schreien eines Trainers motiviert, sondern vielmehr verschreckt und alte Traumata und Minderwertigkeitskomplexe erweckt. In Einzelgesprächen – in denen sich die beiden immer den Fussball zuspielen – erklärt Leenders Memphis, wie er die Kommunikation des Trainers zu deuten und mit ihr umzugehen hat.
Auch weil Leenders mit dem Klubverantwortlichen spricht und eine Verbesserung in der Beziehung zwischen Spieler und Übungsleiter zu erkennen ist, öffnet sich Memphis Leenders so weit, dass dieser ihn später sogar seine kleine Tochter babysitten lässt. Memphis, in der Zwischenzeit mit 17 Jahren in die Profimannschaft von PSV befördert, dankt Leenders den Vertrauensbeweis, indem er ihn zu seinem persönlichen Berater und Manager macht.
Nach vier Jahren und 50 Pflichtspieltoren verlässt Memphis Eindhoven für eine Ablösesumme von 34 Millionen Euro in Richtung Manchester United. Beim englischen Rekordmeister kassiert der damals 21-Jährige zwar deutlich mehr als die 1200 Euro pro Monat, die ihm sein erster Profivertrag in der Heimat einbrachte, ist dafür aber einmal mehr von Einsamkeit geplagt. Er verprasst sein Geld für teure Autos, Klamotten und Schmuck, seine freien Abende verbringt er oftmals in einer seiner Luxuskarossen auf abgelegenen Landstrassen in der Grafschaft Cheshire, immer auf der Flucht vor der dröhnenden Leere in seinem Leben.
Diese Facette kennen seine Mitspieler bei ManUnited jedoch nicht, sie sehen in ihm nur einen weiteren abgehobenen Jungprofi, der sein Geld zum Fenster rauswirft. Statt ihn nach seinem Befinden zu fragen, attackieren die Routiniers um Wayne Rooney ihn und machen ihn für die schlechte Stimmung in der Kabine verantwortlich. Nach nur eineinhalb Jahren flüchtet Memphis zu Olympique Lyon in die französische Ligue 1. Im Nachhinein betrachtet, der sportlich wohl wichtigste Schritt in seiner bisherigen Karriere.
Bei «OL» reflektiert Memphis sein krachendes Scheitern in Manchester und arbeitet wie ein Besessener daran, als Fussballer (und insbesondere als Mitspieler) zu reifen. Zudem findet er in der Musik einen Weg, seine negativen Erlebnisse und Emotionen zu verarbeiten. Bis heute hat er über zwei Dutzend Rap-Singles veröffentlicht. Nun will er im Sommer 2021 die Ernte für seine Bussjahre in Lyon einfahren.
«Memphis hat bereits so viel durchgemacht in seiner Karriere», sagte sein Nationalmannschaftskollege Matthijs de Ligt der britischen Zeitung «Mirror», «er gibt seine Erfahrung nun an die jüngeren Spieler in unserem Team weiter. Es ist toll, ihn im Team zu haben – nicht nur wegen der Qualität, die er auf den Platz bringt, sondern auch weil er ein wirklich netter Typ ist.»
Was auch noch bei der EM passieren mag, der FC Barcelona kann sich auf den «wirklich netten Typen» freuen. Auch wenn der Wechsel noch nicht ganz in trockenen Tüchern ist – der katalanische Grossklub hat die ablösefreie Verpflichtung des Stürmers bereits vor einigen Wochen auf seiner Website bekannt gegeben.
Für Memphis schliesst sich so dann auch ein Kreis, nicht nur, weil sein einstiger Spitznamen-Geber Patrick Kluivert einst auch für den Verein spielte. «Opa, eines Tages werde ich beim FC Barcelona spielen», versprach er als Vierjähriger seinem vor einigen Jahren verstorbenen Grossvater. 23 Jahre später löst er dieses Versprechen nun ein – womöglich sogar als Europameister.
Ein Gegenbeispiel wie es oftmals endet, ist die Geschichte von Aaron Hernandez. Doku auf Netflix ist nur zu empfehlen.
Zeigt einmal mehr, was Gewalt, Mobbing und Ausgrenzung mit uns Menschen macht. Erstaunlich finde ich, dass häufig Trainer nur rumbrüllen - sie sollten wissen, dass dies nicht bei jedem funktioniert - bei mir übrigens auch nicht.