Es ist ein verregneter Mittwochmorgen in der Sonnenstube Lugano. Vladimir Petkovic sitzt an einem Tisch im Hotel Villa Sassa. Einen Monat dauert es noch, bis die Schweiz an der EM gegen Albanien ihr erstes Spiel bestreitet. Petkovic spricht entspannt über das kommende Abenteuer.
Irgendwann sagt er: «Wir wollen Geschichte schreiben.» Geschichte schreiben? Was bedeutet das? Viertelfinal? Halbfinal? Petkovic zögert. Er möchte nichts präzisieren. Plötzlich sagt er: «Geschichte schreiben bedeutet doch auch ‹in Erinnerung bleiben›. Das würden wir auch, wenn wir nach der Gruppenphase nach Hause müssen.» Er lächelt das Lachen eines Mannes mit feiner Ironie.
Manchmal ist es schwierig, Vladimir Petkovic zu verstehen. Wer möchte, kann ihn leicht missverstehen. Oder ihm seine Worte etwas bösartig auslegen. Man sollte es nicht tun. Denn hinter der lächelnden Fassade versteckt sich ein faszinierender Mensch. Ein Mensch, der eine bewegende Geschichte zu erzählen hat. Aber eben auch ein Mensch, um den viele Rätsel schwirren.
Die Geschichte von Petkovic und der Schweiz beginnt mit einem Missverständnis. Im Juni 1987 landet er am Flughafen Zürich. Ein alter Bekannter seines Vaters empfiehlt ihn für ein Probetraining in St. Gallen. Doch am Flughafen taucht der Mann, der Petkovic abholen soll, nicht auf. Es ist nur ein kleiner Irrtum, der Mann hat sich in der Ankunftszeit des Fluges getäuscht. Wenig später: alles bestens. Das Abenteuer Schweiz kann beginnen. Zu diesem Zeitpunkt sieht Petkovics Bild über die unbekannte Schweiz so aus: «Eine sichere Insel inmitten der Welt. Mit Banken, Uhren, Schokolade.»
Doch der Weg, den Petkovic beschreitet, ist ein holpriger. In St.Gallen erhält er keinen Vertrag, die Konkurrenz ist zu gross. Er wechselt zu Chur in die NLB. Doch bald entsteht dort eine Provinzposse. Der Präsident des Vereins wettert in der «Bündner Zeitung»: «Sobald ich einen Neuen habe, muss der Jugoslawe weichen! Er ist nicht der angepriesene Goalgetter – leider hat mich sein Spielervermittler gehörig reingelegt.»
Heute, 29 Jahre nach der Episode in Chur, ist es dieselbe Geschichte,
die sich manche über Petkovic erzählen. Petkovic, der Mann, der
Hoffnungen entfacht, und das Versprechen nicht einlösen kann. Seit fast
zwei Jahren ist Petkovic Schweizer Nationaltrainer.
Vielleicht hat es schon bessere Zeitpunkte gegeben, die Schweizer Auswahl zu übernehmen als im Juli 2014. Sein Vorgänger heisst Ottmar Hitzfeld. Sein Vorvorgänger Köbi Kuhn. Ein weltmännischer Erfolgstrainer der eine. Ein volksnaher Gemütsmensch der andere. Dazu kommen andere Fakten. Die Schweiz fehlt seit 2004 nur einmal an einem grossen Turnier. An der EM 2016 spielen erstmals 24 Teams, nicht 16 wie bisher. Bedeutet: Sogar die Gruppenzweiten in der EM-Qualifikation sind direkt dabei in Frankreich. Mehrere Schweizer Spieler sagen: «Wenn wir uns nicht qualifizieren, ist das eine Katastrophe.» Es ist eine tückische Ausgangslage für den neuen Nationaltrainer.
Vladimir Petkovic, ist die Schweiz nach den letzten Jahren ein bisschen erfolgsmüde?
Vladimir Petkovic:
Ich würde sagen: überheblich! Es würde nicht schaden, würden wir ein
bisschen realistischer werden. Es findet eine EM statt ohne Holland,
ohne Griechenland, auch das sollte in eine Bewertung einfliessen. Zudem
erhalten wir jedes Jahr von neuem die Bestätigung, dass es keine
einfachen Siege mehr gibt. Wer besiegt Liechtenstein noch mit fünf Toren
Differenz? Niemand!
Wenn Spieler wie Granit Xhaka oder Breel Embolo sagen: «EM-Titel, warum nicht?» Gefällt Ihnen ein solches Denken?
Das
schon. Sie sind jung und dürfen sich so äussern. Ein bisschen arrogant
und überheblich darf man schon sein. Ich gebe diesen Weg ja auch vor,
indem ich klar sage: Nach den ersten beiden Spielen gegen Albanien und
Rumänien wollen wir für den Achtelfinal qualifiziert sein. Aber die
Bodenständigkeit und der Realismus dürfen eben trotzdem nicht fehlen.
Fakt ist: Mit der EM-Qualifikation alleine sorgt das Nationalteam in der Schweiz für keine Begeisterungsstürme mehr. Dazu braucht es mehr. Und das stört Petkovic. Vielleicht, weil er mancherorts eine Abwertung seiner Arbeit ortet. Er fragt sich dann: Warum steht in den italienischen Zeitungen: «Petkovic führt Schweiz an die EM!» Und in den Schweizer Zeitungen: «Pflicht erfüllt. Mehr nicht.»
Wer die Biografie von Petkovic durchforstet, merkt: Vielleicht ist diese Angst, dass die eigene Arbeit nicht genügend wertgeschätzt wird, kein Zufall. Seit Petkovic in der Schweiz Fussball spielte, hat er immer kämpfen müssen für einen neuen Vertrag. Er war stets im Ungewissen, allein mit der Frage: Wie weiter? Chur, Sion, Martigny, wieder Chur, Bellinzona, Locarno, wieder Bellinzona, schliesslich Buochs. Eine Durchschnittskarriere. Auch als Trainer musste er lange kämpfen, ehe er eine Chance im Profifussball bekam. «Ich musste lange durchs Fegefeuer gehen», hat er einmal gesagt.
Mehr als zehn Jahre, von 1997 bis 2008, hat er als Spielertrainer und Trainer im Amateurbereich gearbeitet, ehe er bei den Young Boys eine Chance als Profi erhielt. Und schliesslich auch die Türkei (Samsunspor) und Italien (Lazio Rom) kennen lernte. Eine Aufgabe (oder: Chance) so gross wie jetzt an der EM, war noch nicht dabei.
Herr Petkovic, stehen Sie vor der grössten Bewährung Ihrer Trainerkarriere?
Jein.
Ich hatte schon viele Herausforderungen. Und ich habe sie immer
bestanden. Ich bin mit Agno in die NLB aufgestiegen. Ich habe Bellinzona
in den Cupfinal und die Super League geführt. Mit YB war ich im
Cupfinal und Zweiter in der Meisterschaft. Mit Lazio Rom im
Europa-League-Viertelfinal und Cupsieger. Ich bin überzeugt, dass ich
die Prüfung in Frankreich bestehe. Auch wenn das eine andere Realität
ist.
Fühlen Sie sich als Nationaltrainer manchmal ungerecht behandelt?
Über
die Art und Weise, wie ich angesehen werde, bin ich schon seit Jahren
hinweg. Darum ist das kein Problem. Manchmal gebe ich einfach ein
kleines Signal, wenn ich spüre, dass ich mich wehren muss.
Spüren Sie manchmal, dass einige Leute Vorbehalte gegen Sie haben wegen Ihres Migrationshintergrunds?
Nein,
das ist kein Problem. Es gibt viele Möglichkeiten, zu polemisieren.
Aber wer auf unser Team schiesst, egal auf wen, schiesst auch auf sich
selbst – wenn er denn ein richtiger Schweizer ist.
Manchmal wird man das Gefühl nicht los, es gebe mehr als einen Vladimir Petkovic. Wer mit Wegbegleitern über den Menschen Petkovic spricht, hört immer wieder lobende Worte. Petkovic, verheiratet und Vater zweier erwachsener Töchter, war während seiner Zeit als Amateur-Trainer im Tessin auch als Sozialarbeiter tätig. In Giubiasco bei der Caritas. Mara Doubravac, eine langjährige Mitarbeiterin, schwärmt von Petkovics Einfühlungsvermögen und dessen Kommunikation. Petkovic hat mit Arbeitslosen zusammengearbeitet. Und hat verzweifelten Jugendlichen wieder Hoffnung gegeben.
Senad Lulic ist wohl derjenige Fussballer, der Petkovic am besten
kennt. Er hat unter ihm in Bellinzona, bei den Young Boys und später bei
Lazio Rom gespielt. Lulic war es, der mit seinem Tor das Derby gegen
die AS Roma im italienischen Cupfinal entschied. «Als Petkovic nach Rom
kam, war er ein Unbekannter. Jetzt kennt ihn jeder. Und für die Fans von
Lazio Rom ist er unsterblich.» Wenn Lulic Petkovic beschreiben soll,
tut er das so: «Petkovic beherrscht Dinge, die man nicht lernen kann. Er
hat ein Gefühl, im entscheidenden Moment jenen Mann einzuwechseln, der
das Team zum Sieg schiesst.» So geschehen beim EM-Qualifikationsspiel
der Schweiz gegen Slowenien, als das Team aus einem 0:2 ein 3:2 machte.
Und Lulic sagt: «Ich traue es Petkovic zu, dass er die Schweiz
hervorragend durch die EM führt.»
Wenn Petkovic entspannt an einem Tisch sitzt und ins Erzählen kommt, dann lauscht der Zuhörer gebannt. Wie er als Knirps mit seinem Vater in einer Fussballgarderobe in Sarajewo sass und den Fussball aufsog. Wie er bei einem Flug fast abgestürzt wäre. Wie er die Zeit des Krieges in seiner Heimat aus der Schweiz am Telefon mitverfolgen musste und dabei die Bomben einschlagen hörte. Wie er seine Frau in einer Disco kennen und auf den ersten Blick lieben lernte.
Und doch wird die Art, wie ihn die Menschen in der Schweiz in Zukunft wahrnehmen, von einem entscheidend abhängen: vom Erfolg. Es ist Petkovic zu wünschen, dass die Schweizer Leistungen lange in Erinnerung bleiben, vielleicht sogar in die Geschichte eingehen. Und zwar nicht, weil sie nach der Vorrunde heimreisen müssen.