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«Es ist ein Haifischbecken» – Urs Fischer im grossen Interview

epa08055054 Union?s head coach Urs Fischer reacts during the German Bundesliga soccer match between Union Berlin and 1. FC Koeln in Berlin, Germany, 08 December 2019. EPA/FELIPE TRUEBA CONDITIONS - AT ...
Urs Fischer ist seit Sommer 2018 Trainer bei Union Berlin. Gleich in der ersten Saison führte der Zürcher die «Eisernen» zum Aufstieg in die Bundesliga.Bild: EPA
Interview

«Es ist ein Haifischbecken, aber ich fühle mich im Wasser wohl»

Urs Fischer, Trainer von Union Berlin, über die Bundesliga, Menschenführung, Hühnerhaut und das Leben getrennt von seiner Familie.
22.12.2019, 09:5022.12.2019, 12:13
markus brütsch, berlin-köpenick / schweiz am wochenende
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Am Montag wird im Stadion an der Alten Försterei gesungen – beim traditionellen Weihnachtssingen von Union Berlin. Singen Sie mit?
Urs Fischer: Leider bin ich dieses Mal nicht dabei. Nach unserem Spiel in Düsseldorf fliege ich am 23. Dezember nach Hause. Die Winterpause ist in dieser Saison derart kurz, dass es nicht anders geht.

Dann erzählen Sie bitte, wie es vor einem Jahr war.
Der helle Wahnsinn. Die Tribünen bei unseren Spielen sind immer voll. Ist beim Weihnachtssingen dann noch der Platz, wo sonst gespielt wird, voller Menschen, dann sind etwa 30000 Leute da.

«Runterfahren, die Familie geniessen, zuhause sein. Das ist doch super.»
Urs Fischer, Trainer Union Berlin

In diesem Jahr dürfte die Stimmung besonders ausgelassen sein, nach den guten Vorstellungen im ersten Bundesliga-Halbjahr der Klubgeschichte.
Ich denke, dass das Weihnachtssingen und seine Ambiance nicht abhängig sind vom sportlichen Erfolg. Es ist immer ein grossartiges Erlebnis.

Wie die Bundesliga für Union und Köpenick. Als Aufsteiger steht Ihre Mannschaft mit 20 Punkten gut da. Wie hat sie das geschafft?
Zuerst hat unser Sportdirektor Oliver Ruhnert im Sommer einen sehr guten Job gemacht. Er hat fussballerische Qualität und gute Charaktere geholt. Ganz wichtig war, schnell zu lernen. Bei der 0:4-Heimniederlage im ersten Spiel wurden wir von Leipzig überrollt. Alle wussten nun, dass es einiges mehr braucht als in der zweiten Liga.

Zur Person: Urs Fischer
Mit 534 Spielen für den FC Zürich und den FC St.Gallen absolvierte Urs Fischer hinter Philippe Perret (540) in der höchsten Schweizer Spielklasse die zweitmeisten Einsätze. Nach dem Karrierenende 2003 als Spieler wurde der heute 53-Jährige beim FCZ Nachwuchstrainer, bevor er die erste Mannschaft übernahm. Nach seiner Entlassung übernahm er für zweieinhalb Jahre den FC Thun, danach für zwei Saisons den FC Basel. Seit dem 1. Juli 2018 ist er Trainer des 1. FC Union Berlin, den er im ersten Jahr gleich zum Aufstieg führte. Seine weiteren Erfolge als Trainer: zweimal Meister und einmal Cupsieger mit dem FC Basel. (br)

Würden Sie als Trainer gerne gegen eine Mannschaft spielen, die von Urs Fischer eingestellt wurde?
Ich höre von den gegnerischen Trainern, dass sie gegen uns nicht so gerne spielen. Das nehme ich als Kompliment auf.

Wie vermutlich auch die frühzeitige Vertragsverlängerung.
Mein Vertrag hatte sich mit dem Aufstieg verlängert. Entscheidend war, dass wir uns trotzdem noch einmal zusammensetzten. Uns trotz des Aufstiegs, trotz des weiterlaufenden Vertrags, austauschten. Passt es noch? Das waren gute Gespräche. Im Erfolgsfall passieren die grössten Fehler.

Waren Sie im Sommer 2018 eigentlich von Union mit der Mission «Aufstieg» verpflichtet worden?
Nein. Meine Aufgabe war, uns tabellarisch zu verbessern und unser Spiel zu stabilisieren. Klar hatten wir Ambitionen, ein Wort mitzureden, den siebten oder achten Platz zu erreichen.

ARCHIV - ZUM JAHRESRUECKBLICK 2019 - SPORT STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - 27.05.2019, Berlin: Fußball: Bundesliga, Relegation, Rückspiele 1. FC Union Berlin - VfB Stuttgart  ...
Mai 2019: Urs Fischer führt die Union an der Alten Försterei zum erstmaligen Aufstieg in die Bundesliga.Bild: DPA

War Union für Sie wie Liebe auf den ersten Blick?
Liebe auf den ersten Blick? Ich würde es so sagen: Es hat vieles gepasst. Und wenn vieles passt, fällt vieles einfacher.

Man hört immer wieder von Schweizer Spielern und Trainern, die ins Ausland gegangen sind, dass ihnen Skepsis entgegengebracht worden sei. Nach dem Motto: Was will dieser Schweizer denn hier? Haben Sie das auch erlebt, oder ist es bei den «Eisernen» in Köpenick ein wenig anders?
Es ist nicht entscheidend, woher du kommst. Man ist jemand, den man nicht kennt. Man ist ein bisschen vorsichtig. Man schaut einmal. Wie präsentiert er sich? Wie ist er? ‹Skeptisch› ist das falsche Wort. Die Leute hier sind offen, gehen nicht auf Distanz. Aber schliesslich hängt es auch von dir selber ab. Dass man mit den Leuten spricht und nicht abblockt. Und eines muss ich auch noch sagen: Wenn du hier arbeitest, bist du Teil des Ganzen, Teil der Familie.

Familiärer als alles, was Sie bis jetzt gesehen haben?
Bitte nicht vergleichen! Bei allen Stationen war es sehr familiär. Aber einfach immer auf eine andere Art und Weise.

Wie sehr wurde Union von der Aufstiegseuphorie durch den Herbst getragen?
Die spielt auf jeden Fall eine Rolle und hilft dir vielleicht, auch schwierige Phasen der Saison zu überstehen.

Kriegen Sie als Trainer bei dieser unglaublichen Atmosphäre im Stadion der Alten Försterei eigentlich auch manchmal Hühnerhaut?
Ja. Immer wieder.

Die Stimmung nach dem Aufstieg gegen den VfB Stuttgart lässt sich aber kaum toppen.
Doch! Wir haben sie getoppt, auf unterschiedliche Art und Weise. Gegen Dortmund und Gladbach ist das Stadion bei unseren Toren und dem Sieg explodiert. Beim Aufstieg war es so, dass eine extreme Anspannung und nach dem Abpfiff eine riesige Erleichterung und Freude da waren. Alle, die ausserhalb des Stadions waren, sind dann auch noch reingekommen.

Was ging in Ihnen vor, als Sie die Choreografie der Fans sahen? Gezogen über die ganze Tribüne mit einem jubelnden Urs Fischer.
Da hatte ich ebenfalls Hühnerhaut. Das ist eine Wertschätzung. Auf der einen Seite ist Stolz, auf der anderen Seite ist es fast etwas komisch, weil ja das gesamte Team und der komplette Verein ihren Teil dazu beigetragen haben. Aber wenn das nichts mehr bei dir auslöst, dann ...

Es ist schön im Haifischbecken Bundesliga.
Ich habe den FC Zürich trainiert, dann den FC Thun, den FC Basel und jetzt Union – das alles war und ist ein Haifischbecken. Egal, wo du dich aufhältst: Bezahlter, professioneller Fussball ist ein Haifischbecken.

Da fühlen Sie sich wohl drin?
Ich fühle mich im Wasser wohl.

Wohl in einem Haifischbecken? Wenn man nur daran denkt, was Lucien Favre in Dortmund erleben musste ...
Ich freue mich, dass es ihm wieder besser läuft. Ich habe ja beim FCZ mit ihm zusammengearbeitet. Aber ich meine: Wenn du zu Dortmund gehst, weisst du, was dich erwartet. Das wusste auch Lucien. Dass es unruhig wird, wenn der Erfolg ausbleibt, das ist so. Das ist eben Haifischbecken. Das ist für mich aber nichts grundsätzlich Negatives.

Der Schweizer Nationalcoach Vladimir Petkovic schwimmt in einem Becken mit besonders gefrässigen Haien.
Wie kann man einen Trainer in Frage stellen, der so erfolgreich ist? Aber in einem Haifischbecken darf dich so etwas nicht überraschen. Ob es richtig oder falsch ist, das ist wieder etwas anderes. Aber so ist das Business. Ich habe mich entsprechend geäussert, dass es überhaupt keinen Grund gebe, den Nationaltrainer zu wechseln.

Laut dem Magazin «Sport-Bild» trainiert Union ohne technischen Schnickschnack, ohne diese GPS-Geräte, mit denen Daten generiert werden.
Das ist Quatsch. Unsere Spieler trainieren natürlich mit GPS. Man spricht heute von Old-School- und den Laptoptrainern. Am Schluss muss man eine Mischung finden. Daten helfen. Gerade in der Steuerung des Trainings, um Verletzungen vorzubeugen. Wenn du bemerkst, dass der Spieler nicht erholt ist, heisst es aufpassen. Die Wissenschaft bleibt auch im Fussball nicht stehen.​

Kürzlich hat der Leipziger Jungtrainer Julian Nagelsmann erklärt, die Mannschaftsführung mache 70 Prozent des Trainerjobs aus. Können Sie das unterschreiben?
Dem kommt immer grössere Bedeutung zu, ja. Da hat er recht. Der Austausch mit der Mannschaft und mit den einzelnen Spielern ist essenziell. Wir haben einen Kader von 32 Spielern. Für das Spiel kann ich 20 ins Aufgebot nehmen, zwölf sitzen auf der Tribüne, sechs werden nicht zum Einsatz kommen. Das ergibt 18 Enttäuschte.

Wie geht man mit denen um?
Ich kann nicht mit allen 18 ein Gespräch führen. Aber ich muss zwischendurch mit ihnen reden. Aber aufgepasst: Die Jungs unterschreiben auch Verträge. Sie wissen, worauf sie sich einlassen. Dennoch braucht es das eine oder andere Gespräch, um sie bei Laune zu halten. Das hat mit Führung und Sozialkompetenz zu tun, die du mitbringen musst.​

Ist Ihre Trainerkabine offen, wenn ein Spieler mal anklopft?
Sicher. Das muss so sein. Es ist uns wichtig, dass die Spieler wissen, dass sie kommen dürfen, wenn etwas ist.

In den letzten Wochen gab es Medienberichte über Eishockeytrainer, die Spieler kaputtgemacht haben. Ist Ihnen solches auch schon passiert?
Natürlich gab es schon solche Situationen. Aber zum guten Glück beschränkt sich das in meiner Karriere auf einige wenige. Einer dieser Spieler war beim FC Basel. Der hatte das Gefühl, ich hätte etwas gegen ihn. Ich gäbe ihm kein Vertrauen und entsprechend hat er sich auch geäussert, als er ging. Jetzt haben wir uns wiedergesehen. Ich ging auf ihn zu. Wir haben uns herzlich begrüsst. Ich fragte ihn: ‹Hast du dazugelernt? Das, was du bei mir noch nicht gemacht hast, machst du jetzt plötzlich!› Spieler werden halt sehr emotional bei der Frage, ob sie spielen, oder nicht spielen.​

Mit Empathie kann viel herausgeholt werden.
Ich will es nicht so verstanden haben, dass einer bereits Trainer sein kann, wenn er eine gute Menschenführung hat. Es braucht auch die nötige Fachkompetenz, und du brauchst ein Team. Jeder Bereich hat heute einen Spezialisten. Früher standen der Trainer und sein Assistent auf dem Platz. Und der Co-Trainer stellte die Hütchen auf. Es gab keine individuelle Analyse. Videokassette rein – und schaut jetzt einmal.​

Sie haben ein halbes Jahr Bundesliga hinter sich. Wie fest zehrt das an der Substanz?
Vom Aufwand her ist es dasselbe wie in der zweiten Liga. Unabhängig davon in welcher Liga wir spielen, brauche ich für das Verarbeiten von Siegen und Niederlagen die gleiche Zeit. Das hat auch keinen Einfluss auf meinen Schlafrhythmus.​

Brauchen Sie viel Schlaf?
Optimal sind sieben, siebeneinhalb Stunden. Ich stehe um halb sieben auf, beginne um sieben zu arbeiten.

Wie schwer fällt es, getrennt von der Familie zu leben?
Es hat etwas gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Es funktioniert im Moment aber super. Ich habe auch immer wieder die Möglichkeit, nach Hause zu fliegen. Im letzten halben Jahr etwas weniger. Aber nichtsdestotrotz: Die Familie kommt auch immer wieder für ein paar Tage nach Köpenick. Es gibt aber schon Momente, wo sie fehlt. Wo man gerne zusammensitzen, einen Kaffee trinken und über gewisse Themen sprechen würde. Aber jetzt haben wir dann ja neun Tage Ferien.

Neun ...
Aber neun sind neun! Es ist besser als nichts! Mach aus diesen neun das Optimum.

Was machen Sie daraus?
Runterfahren. Die Familie geniessen. Wir tun das in den folgenden Tagen umso intensiver. Zuhause sein. Das ist doch gut. Super. Es ist keine Frage der Dauer, sondern es geht darum: Was machst du daraus?​

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6 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Trafalgar
22.12.2019 11:27registriert August 2014
Super Interview mit einer sehr sympathischen Persönlichkeit.
Ich mag dem Urs Fischer die Erfolge in Berlin von herzen gönnen.
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Pumabu
22.12.2019 11:22registriert November 2017
Mit dem Ex-FCB-Spieler meint er wohl Boetius, der heute bei Mainz (sehr gut) spielt. Beim FCB hatte er ja gar nicht reussiert und sich dann in der Presse sehr schlecht über Urs Fischer geäussert. Im Leben trifft man sich immer zweimal.. 🙂
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Marvinovski
22.12.2019 11:31registriert Februar 2018
Ein sehr sympathischer Typ und hervorragender Trainer. Angesichts der starken Leistungen vieler Bundesligisten in diesem Jahr ist es umso erstaunlicher, dass sich ein Aufsteiger stabil im Mittelfeld der Tabelle halten kann. Hoffentlich geht die Erfolgsgeschichte von Union noch lange weiter!
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