Die Liste der Langzeitverletzten im Skiweltcup wird länger und länger. Besonders gebeutelt mit Kreuzbandrissen ist in diesem Winter das Schweizer Frauenteam. Aline Danioth, Charlotte Chable, Luana Flütsch, Elena Stoffel, Andrea Ellenberger und Juliana Suter verlieren wegen der häufigsten Verletzung im Skirennsport ein Jahr ihrer Karriere. Der Schweizer Alpinchef Walter Reusser verrät im Interview, wie man dank wissenschaftlicher Forschung die Anzahl schwerer Knieverletzungen eindämmen will. Und er fordert von der FIS höhere Professionalität bei der Pistenpräparierung und mehr Rennen auf den gleichen Pisten.
Wer oder was ist schuld an den vielen Verletzungen im Weltcup?
Walter Reusser: Die Thematik ist mehrschichtig. Das Gelände präsentiert sich jedes Jahr anders. Wettereinflüsse können innerhalb eines Tages extrem ändern. Die Athleten suchen das Limit, denn an der Spitze wird es stets dichter. Man reizt alles aus, vom Material bis zur physischen Vorbereitung. Eine gewisse Kompromisslosigkeit gehört dazu. Es ist letztlich ein sehr schmaler Grat.
Stimmt der Eindruck, dass die Anzahl der Knieverletzungen deutlich zunimmt?
Nein, sie nehmen nicht massiv zu. Es gibt im Skisport drei Muster von Verletzungen, wenn man einmal den Rücken weglässt, der oft eine chronische Problematik ist. Nach Stürzen ist es häufig das Kreuzband, oft auch Schien- und Wadenbein und wir realisieren eine Zunahme von Schädel-Hirn-Verletzungen wie etwa Schleudertrauma oder Hirnerschütterung. Im langjährigen Vergleich häufen sich die Verletzungen nicht. Klar gibt es Winter, wo abhängig von den Schneebedingungen mehr passiert. Aber im Schnitt verletzten sich bei Swiss Ski während eines Winters rund 15 Prozent der Athleten. Dieser Wert ist konstant. Frauen sind deutlich mehr betroffen.
Niemand hat Interesse an einer solchen Entwicklung. Was kann man als Verband dagegen tun?
Zuerst muss man die Gründe verstehen. Ist es Überforderung? Ist es Überlastung? Ist es die Trainings- und Rennplanung, die sogenannte Belastungssteuerung? Schleicht sich eine Verletzung über die Zeit ein? Swiss Ski hat in den letzten drei Jahren sehr intensiv zum Thema Kreuzband geforscht, mit verschiedenen Projekten gemeinsam mit Universitätskliniken.
Was hat man herausgefunden?
Zum einen, dass der hintere Oberschenkelmuskel beim Skifahren am besten hilft, das Kreuzband zu stützen und stabilisieren. Zum anderen hat die Studie gezeigt, dass die nervliche Steuerung der Muskulatur entscheidend für die Reaktionsfähigkeit ist. Wenn der Muskel zu spät reagiert, dann fehlt im entscheidenden Moment die Unterstützung für das Kreuzband.
Was bedeutet das?
Dass die mentale Verfassung eines Athleten einen Einfluss auf die Verletzungsgefahr hat. Bei den Frauen spielt auch der Zyklus eine wesentliche Rolle. Im Rahmen der Studie hat man bei einigen Athleten über einen gewissen Zeitraum mittels MRI immer wieder den Zustand der gesunden Knie beobachtet.
Mit welcher Erkenntnis?
Die Struktur des Kreuzbands kann sich auch ohne Sturz oder Verletzung im Verlauf einer Saison schwächen. Ein Kreuzbandriss, der in einer nicht bedrohlich aussehenden Situation erfolgt, hat also durchaus eine Vorgeschichte. Das Kreuzband kann bereits lädiert sein oder die nervliche Ansteuerung der Muskulatur ist nicht mehr optimal.
Welche Konsequenzen hat das?
Die Belastung ist ein Riesenthema. Das Energielevel eines Athleten kann sich körperlich und psychisch unterscheiden. Weil die nervliche Belastung für das Verletzungsrisiko eine grosse Rolle spielt, sind wir daran, zusätzlich zu den bisherigen Leistungstests, die etwa Sprungkraft oder Reaktion messen, ein neues Messinstrument zu entwickeln. Dieses soll noch genauer über die momentane Verfassung eines Athleten Auskunft geben.
Und einem Athleten allenfalls ein Startverbot einbringen?
Das Ziel sind Einsatzplanungen, die präventiv helfen, schwere Verletzungen zu verhindern. Mit einer rechtzeitigen Steuerung das Trainingsplanung kann man verhindern, dass das Energielevel just vor dem Rennen sinkt.
Oft wird im Zusammenhang mit Verletzungen auch über Pistenpräparation und Schneebeschaffenheit diskutiert. Wo liegt das Problem?
Die Piste hat einen entscheidenden Einfluss auf die Aggressivität des Materials. Die Abstimmung zwischen Ski, Kanten, Steifheit des Skis und Schneebeschaffenheit hat einen enormen Effekt auf die Kräfte, die auf einen Athleten wirken. Je besser eine Piste präpariert ist – und ich meine damit nicht ruhig und ohne Schläge, sondern die Gleichmässigkeit vom Start bis zum Ziel – desto einfacher ist es für die Serviceleute, die richtige Abstimmung zu finden. Die schlimmste Situation für die Abstimmung ist der Wechsel: Wahnsinnig aggressiver Schnee und dann auf einmal eine eisige Unterlage.
Helfen ausgerechnet eisige Unterlagen bei der Vermeidung von schweren Knieverletzungen?
Das ist im Grundsatz tatsächlich so. Wenn ein Fahrer sich verdreht, dann rutscht der Ski weg und greift nicht sofort wieder wie bei aggressivem Schnee. Nur ist es wahnsinnig schwierig, solche Pistenverhältnisse hinzukriegen. Eine klare Nacht, ein Temperaturwechsel oder nur schon Wind können aus dem Einsatz von Wasser bei der Streckenpräparation ein ganz anderes Ergebnis machen. Aber es muss ein Ziel der FIS sein, dass die Rennpisten in einem besseren Zustand sind.
Wo sehen Sie Lösungsansätze?
Ich persönlich sehe zwei Ansätze, die aus Sicht der Athleten und des Sports enorm helfen würden. Viel mehr in die Präparation der Rennpisten investieren, mittels eines professionellen Teams. Und mehr Rennen auf der gleichen Strecke. Nur so kann der grössere Aufwand finanziert werden.
Die FIS möchte den alpinen Skisport weiter globalisieren. Das entspricht nicht diesem Ansatz?
Man muss natürlich darüber diskutieren, welche Nation wie viele Rennen erhält. Und beurteilen, wer effektiv fähig ist, ein solches Rennen durchzuführen. Bei allem Bestreben, den Skisport zu globalisieren. Letztlich sind es die Auftritte in den grossen, traditionellen Weltcuporten wie Kitzbühel oder Wengen, die dafür sorgen, dass unser Sport in die Welt hinausgetragen wird.
Man könnte wie beim Curling, wo weltweit spezialisierte Eismeister für perfekte Bedingungen sorgen, im Skiweltcup ein Team von professionellen Pistenpräpariern bilden, das überall zum Einsatz kommt?
Absolut. Es muss in Richtung Professionalisierung gehen. Es kann nicht sein, dass man eine Piste so lange wie möglich für die Touristen offen lassen will und vor dem Rennen schnell, schnell für die Athleten präpariert. Deshalb der Ansatz, dass absolute Profis von einer Weltcupdestination zur nächsten reisen und für gleichmässige Pistenverhältnisse sorgen. Perfekte Rennpisten verbessern die Sicherheit der Athleten entscheidend.
Zuletzt kritisierten Fahrer auch Strecken in der Schweiz.
Die Schweizer Weltcup-Veranstalter leisten hervorragende Arbeit – auch, was die Präparation der Rennstrecken anbelangt. In Adelboden war die Piste sehr gut und verleitete zum Angriff. Die Kurssetzung war aber sehr direkt. Die Fahrer waren 9 Prozent schneller unterwegs als vor einem Jahr. Bei einem Riesenslalom muss man die Geschwindigkeit im Griff haben. Das wiederum liegt in der Verantwortung des Kurssetzers. Es ist vielleicht auch Aufgabe der FIS, die Partikularinteressen eines Kurssetzers, der aus dem Trainerteam einer Nation kommt, mit einem angepassten Regelwerk zugunsten der Sicherheit ein stückweit zu neutralisieren.
Muss man beim Thema nicht auch über das Material sprechen?
Dass die Ski-Industrie von sich aus sagt, wir machen langsamere oder sicherere Skis, wird nicht passieren. Das Zusammenspiel zwischen Destination, Pistenpräparation und Kurssetzung entscheidet darüber, welcher Ski verwendet wird. Deshalb muss die Pistenbeschaffenheit genau so sein, dass nicht mehr der brutal aggressive und am schwierigsten zu fahrende Ski der schnellste ist. Sondern dass man auch mit einem einfachen Setup schnell fahren kann.