Humpelnden Ganges und direkt von einem Röntgentermin erscheint David Graf zum Interview in Winterthur – gezeichnet von einer strapaziösen, aber auch mindestens teilweise sehr erfolgreichen Saison. Vorletztes Wochenende, beim letzten Weltcup-Rennen in Sarasota (USA) kam Graf noch einmal schmerzhaft zu Fall, er beendete die Saison aber trotz dem 16. Rang auf Platz 2 der Gesamtwertung.
David Graf, alles noch ganz?
David Graf: Anscheinend schon. (lacht) Das Becken fühlte sich gebrochen an, aber die Radiologen sagen, es sei alles heil.
Was steht bei Ihnen als nächstes an?
Nichts, respektive Ferien, denn die Saison ist fertig. Meine Freundin wohnt in Deutschland und ich war jetzt seit Silvester nicht mehr bei ihr. Sie musste immer zu mir in die Schweiz kommen, darum habe ich gefunden, jetzt könnte ich schon wieder einmal zu ihr.
Das ist schon eine lange Zeit. Ist das einfach die Realität als Weltenbummler?
Ja, aber nicht einmal nur wegen der Reisen. Bei der Freundin in Deutschland hat es keine Piste um zu trainieren, darum hat es vor den Olympischen Spielen nie funktioniert, um dorthin zu kommen. Man muss Prioritäten setzen und in dieser Saison waren die Prioritäten ganz klar andere.
Diese Saison war relativ stark fokussiert auf das eine Ereignis, die Olympischen Spiele?
Genau, alles war auf Rio ausgerichtet. Das war schon länger der Fall, aber während der Saison ist es natürlich extrem.
Wie früh muss man sich denn als BMXer in der Trainingsplanung schon mit so einem Grossereignis auseinandersetzen?
Die Qualifikation für die Quotenplätze beginnt schon zwei Jahre vorher, ab da zählt jedes Rennen für das Nationenranking und ab da solltest du einfach parat sein, damit du möglichst viele Punkte holst. Anfangs des Qualifikationszyklus' haben wir (Renaud Blanc, der andere starke Schweizer BMXer, und Graf, Red.) zu wenige Punkte gemacht. Wir waren noch nicht auf dem Niveau, auf dem wir hätten sein müssen, darum haben wir nur einen Startplatz für Rio geholt – mit dem besseren Ende für mich.
Nun aber seid ihr beide ja sehr gut dabei, wurdet im Gesamtweltcup 2. und 8. Damit könnt ihr zufrieden sein?
Ja, voll. Vor allem hat Renaud im letzten Rennen noch ein relativ schlechtes Resultat eingezogen (er wurde 17., direkt hinter Graf, Red.) und ist vom 4. Gesamtrang noch zurückgefallen. Aber für die Schweiz ist es insgesamt ein super Resultat.
Ist das etwas, dass euch beide für die Zukunft zuversichtlich stimmen darf?
Ja, sicher. Wir haben beide riesige Fortschritte gemacht. Renaud stand Anfang Jahr erstmals auf einem Weltcup-Podest – etwas, das mir in dieser Saison sogar zweimal gelungen ist. Das hat es vorher noch nie gegeben in der Schweiz. So gesehen sind wir schon auf einem guten Weg, aber jetzt geht es wieder eine Weile, bis es wieder los geht mit den wichtigen Wettkämpfen für die Olympischen Spiele. Jetzt kommen erst mal zwei Jahre, in denen das Ganze ein bisschen vor sich hinplätschert.
Wieso das?
In den zwei Saisons vor den Olympischen Spielen ist alles vor allem auf den Weltcup ausgerichtet. Weltcup, Weltmeisterschaft: die grossen Rennen sind wichtig für die Punkte. In den zwei Jahren ohne Olympische Spiele ist der Weltcup zwar wichtig, aber dann kannst du auch mal in Amerika gewisse Rennen fahren, wo der Stellenwert des Sports etwas höher ist. Dort kannst du praktisch jedes Wochenende ein Rennen fahren, das auf Weltcup-Level ist.
Ist diese Serie abgekoppelt vom Weltcup?
Genau. Für die Olympia-Quali zählen diese Rennen auch, aber nicht sonderlich viel, darum fahre ich nicht die ganze Serie. Das wäre zuviel, um die Leistung wirklich immer zuoberst zu halten. Man muss sich halt einen Plan zusammenstellen. Der Fokus liegt eigentlich immer auf der WM und dem Weltcup und weiter baut man sich Rennen rundherum, die gut sind für das Training – oder vom Preisgeld her.
Das ist schon ein wichtiger Aspekt, oder?
Schon, aber grundsätzlich ist es zu wenig Preisgeld, um deswegen an ein Rennen zu gehen. In den Staaten gibt es jetzt eine neue Serie, die gut bezahlt ist. Aber auch dort musst du es aufs Podest schaffen, damit es sich wirklich lohnt. Und mit dem Podium ist immer so eine Sache.
Weil alle Topfahrer an den Start gehen, wenn das Geld stimmt?
Genau. Das Niveau ist extrem hoch, denn es gibt 7000 Franken für den 1. Platz. Das lohnt sich, denn es gibt jeweils zwei Rennen – verdienst du an einem Wochenende 14'000 Franken, dann ist das super! Aber wenn du halt zweimal 5. wirst, dann hast du schon wieder mehr Ausgaben als Einnahmen.
Ist das denn für Sie auch mit etwas Druck behaftet?
Nein. Grundsätzlich wähle ich keine Rennen aus, um Geld zu verdienen. Sportlich gesehen ist es extrem schlecht, wenn du an Rennen gehst und ein gutes Resultat haben musst, um deine Rechnungen zu bezahlen.
Ist das nicht ein grosser Ansporn?
Nein, als Sportler hast du genug Antrieb – respektive solltest genug Antrieb haben –, um es anders zu machen. Das Problem ist, wenn du dir diesen Druck auferlegst und dann etwas schief geht, dann wird es von Wochenende zu Wochenende schlimmer. Grundsätzlich versuche ich, mit Verband, Sponsoren, Sporthilfe und all dem so auszukommen, dass die Preisgelder nur der Bonus sind. Dein Lebensunterhalt sollte nicht vom Preisgeld abhängen. Aber es ist klar, wenn es an einem Wochenende zwei gleiche Rennen gibt, eins mit viel Preisgeld und eins mit wenig, dann gehst du vermutlich eher an das, an dem es mehr Geld gibt.
Die zwei gemächlichen Jahre, haben die eigentlich auch Vorteile?
Ja, denn wenn du jahrelang immer dasselbe machst, dann machst du nicht mehr die gleichen Fortschritte. Dann musst du vielleicht wieder einmal etwas probieren und genau dafür ist jetzt der Zeitpunkt. In den zwei Jahren vor den Olympischen Spielen bleibst du mehrheitlich bei dem, von dem du weisst: das funktioniert. In diesem Winter werde ich aber etwas anderes probieren. Zum Beispiel viel mehr auf Kraft zu setzen und weniger auf Geschwindigkeit – oder umgekehrt – und schauen, ob das vielleicht noch besser ist. Und wenn es nicht so gut ist, habe ich nächstes Jahr noch einen Winter, in dem ich noch einmal etwas ausprobieren könnte. Dann weiss ich für die Winter vor den Olympischen Spiele wieder, was ich machen muss.
Wenn Sie auf die vergangene Saison zurückblicken, sind Sie zufrieden mit dem Verlauf?
Das ist eine schwierige Frage. Ich ziehe ein sehr durchzogenes Fazit, weil das Ganze auf Rio ausgelegt ist. Es läuft alles auf die ein, zwei Tage hinaus. Mit Rio bin ich klar nicht zufrieden. Das war wahrscheinlich eines der schlechtesten Rennen, das ich in meiner Karriere gehabt habe. Vor allem, weil ich so gut drauf gewesen bin und nichts davon zeigen konnte. Es gab nur zwei Leute, die an diesen Olympischen Spielen eine schnellere Runde gefahren sind als ich: Der Olympiasieger und der, der mich im Zeitlauf geschlagen hat – alle anderen waren langsamer. Von dem her hat alles funktioniert, was ziemlich frustrierend ist …
Mit dem sonstigen Saisonverlauf bin ich recht zufrieden. Ein bisschen durchzogen war es Anfang Jahr, als ich noch eine Verletzung hatte, aber am Schluss mit zwei Podestplätzen hintereinander – vor allem der in Holland vor den Olympischen Spielen, als ich 2. wurde in einem der am besten besetzten Rennen, das es je gegeben hat –, das war super. Und der 2. Platz in der Weltcup-Gesamtwertung, das ist natürlich mega. Dazu noch der Vizemeistertitel an der EM. Auf der anderen Seite die WM, die auch nicht funktioniert hat … darum hat es die zwei Hauptanlässe von mir gegeben, die nicht funktioniert haben, dafür war der Rest der Saison ziemlich gut. Es war sicher die beste Saison, die ich bisher hatte.
Aber eben, ganz zufrieden sind Sie nicht?
Nein, das wäre falsch. Ganz zufrieden wäre ich, wenn ich noch zwei Medaillen mehr gewonnen hätte. (lacht)
Gab es einen Schlüsselmoment, wieso es in Rio nicht geklappt hat?
Ja, das war der erste Lauf, als ich mit dem Briten Liam Phillips zusammengekommen bin und stürzte. Da kannst du nicht viel machen, das ist eine Rennsituation, die passiert. Es ist keiner Schuld und gleichwohl wollte es keiner. Ich habe mich darauf eingestellt, dass das passieren kann und es hat mich auch nicht mega fest aus der Fassung gebracht. Klar musste ich erst abchecken, ob alles noch ganz ist. Der Fuss war ein bisschen verletzt und auch sonst hatte ich Schmerzen, aber das hat mich im zweiten Lauf nicht behindert.
Nur die Bänder überdehnt?
Ja, also der Fuss war komplett blau.
Also etwas gerissen?
Ja, etwas war schon gerissen, aber wir haben es nicht abgeklärt. Ich war aber trotzdem ganz optimistisch für den zweiten Tag. Aber es hat einfach nie funktioniert. Ich weiss auch nicht wieso. Immer ist einer die Linie gefahren, die ich fahren wollte. Solche Rennen gibt es, aber es war halt das schlechteste Wochenende, um so ein Rennen einzuziehen.
Und sonst, war das Olympiaerlebnis als Aktiver anders als in London, als Sie nur als Ersatzfahrer dabei waren?
Ja, klar, sehr anders. Ich bin mit dem Hauptziel nach Rio gereist, das Rennen so zu nehmen, wie jedes andere. Das habe ich recht gut hingebracht. Wir haben es gleich gehandhabt wie jedes andere Rennen. Das heisst, ich bin vom Zimmer zum Essen, zum Zimmer, zur Bahn, zum Zimmer. Ich habe mir nichts angeschaut.
Ein ganz bewusst gefällter Entscheid?
Ja. Ich spiele auch sonst nicht Tourist vor einem Rennen, auch wenn es schöne Sachen hat, die man anschauen könnte. Das hatte ich in London und es war auch super, denn sonst hätte ich jetzt im Nachhinein das Gefühl, ich hätte etwas verpasst. Dann müsste ich sagen: «Ey shit, jetzt warst du in Rio und hast es gar nicht speziell gefunden.» (lacht) Denn es ist so schwierig, das ganze Olympia-Ding aufzusaugen und gleichzeitig dein Ding durchzuziehen. Es ist auch ein bisschen «bireweich», wie aufgeblasen das Ganze ist. Es gibt Leute, die das Gefühl haben, es sei das Geilste der Welt. Und ich finde, es wäre das Geilste der Welt, wenn ich dort auf dieser Bühne das Beste abgerufen hätte – dann wäre es ein super Event gewesen. Aber so ist es mir nicht in so guter Erinnerung geblieben.
War der Frust nach den Spielen gross?
Ja, klar. Ich war für mich auf einem Level, auf dem ich klar Medaillenpotenzial gehabt habe. Und wenn du dann so abschliesst, dann ärgert dich das. Das ärgert dich an jedem Rennen. Aber an einem Rennen, das du nur alle vier Jahre machen kannst, ist es noch ein bisschen mühsamer. Und es ist halt schon etwas anderes. Da ist auch das öffentliche Interesse an deinem Sport. Es ist nicht wie sonst, wenn du mehr oder weniger nur für dich fährst, sondern es ist etwas, das für den Sport unglaublich wichtig ist. Wenn du eine BMX-Medaille holst, dann ändert das in der Schweiz schon was. Die Bekanntheit des Sports steigt und es ist schon ein Ziel von mir, den Sport noch ein bisschen weiter zu bringen.
Sind Olympische Spiele das grosse Fenster, um den BMX-Sport in der Schweiz zu präsentieren?
Ja, aber das ist auf der ganzen Welt so. Es gibt kein Land, in dem BMX wirklich Mainstream ist. In Holland und Kolumbien ist BMX noch am ehesten in den Medien. Beides sind Länder, in denen das Velo eine grosse Tradition hat und beide Nationen haben starke Fahrer. In Amerika ist das öffentliche Interesse am Sport auch nicht gross, die Szene ist einfach viel grösser. Dort gibt es es etwa 70'000 lizenzierte Fahrer, in der Schweiz sind es 300 bis 400.
Aber der Sport wächst in der Schweiz?
Ja, aber er war auch schon einmal gross. In den 80ern boomte er recht, als der Sport von den USA herübergeschwappt ist. «Cool, BMX» und so. Dann wurde es aber wieder ruhig. Seit BMX olympisch ist, zieht es aber wieder an. Swiss Cycling hat recht viel investiert in den letzten Jahren. Da sind wir extrem dankbar. Hätten sie das nicht gemacht, wäre BMX sozusagen gestorben in der Schweiz. Das Geld von Swiss Olympic hätte nicht gereicht und darum hat Swiss Cycling einen grossen Teil reingesteckt und gehofft, dass es funktioniert.
Und, hat es funktioniert?
Würde ich schon sagen. Wir sind so erfolgreich wie noch nie im BMX in der Schweiz und sind 8. in der Nationen-Weltrangliste vor grossen Ländern wie England. Klar hat es nicht funktioniert mit der Olympia-Medaille – aber dafür mit WM-Medaillen und auch Junioren-WM-Medaillen (BMX-Talent Cédric Butti holte diesen Sommer Bronze, Red.).
Das mit den Olympia-Medaillen könnte ja noch werden. Wie sieht es aus bezüglich Tokio 2020?
In einem Sport wie BMX verpflichtest du dich für vier Jahre, vor allem für die Verbände und Sponsoren. Darum probieren wir es nochmal. Ich hoffe schon, dass ich dann im Vergleich zu den anderen wieder auf dem Level bin, auf dem ich jetzt bin. Wenn ich das wieder schaffe, dann ist es gut. Und wenn es nicht geht, irgendetwas nicht funktioniert oder wenn ich keinen Spass mehr habe, dann höre ich vielleicht schon in zwei Jahren auf, oder in einem Jahr, oder was auch immer. Aber grundsätzlich ist es das Ziel, vier Jahre weiterzuziehen und Tokio zu machen – und es ein bisschen besser zu machen als in Rio.