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WM in Katar: Gewerkschafterin Schiavi findet die Kritik am Ort zu hart

Für Rita Schiavi war die WM «ein gewaltiger Hebel», um die Situation der Arbeitsmigranten zu verbessern.
Bild: Alex Spichale
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Gewerkschafterin Rita Schiavi: «6500 Tote haben nichts mit den WM-Baustellen zu tun»

In knapp zwei Wochen beginnt die WM in Katar. Gewerkschafterin Rita Schiavi hat dort über Jahre Baustellen inspiziert. Sie sagt, warum sie die Kritik an Katar zu hart und die Debatte in der Schweiz scheinheilig findet – und weshalb sie nicht viel von der Zahl von 6500 toten Arbeitern hält.
08.11.2022, 16:1009.11.2022, 11:47
Dominic Wirth / ch media
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Es gibt kaum jemanden in der Schweiz, der die Situation auf den Baustellen für die umstrittene Fussball-WM in Katar besser kennt als Rita Schiavi. Die Gewerkschafterin hat sie in den letzten Jahren als Schweizer Vertreterin in der internationalen Bau- und Holzarbeitergewerkschaft mehrfach inspiziert. Die 67-Jährige hat ihr ganzes Leben für Arbeiterrechte gekämpft, nach dem Soziologiestudium begann sie den Weg als Gewerkschafterin, der sie bis in die Geschäftsleitung der Gewerkschaft Unia führte.

Schiavi ist als Tochter italienischer Einwanderer in Zürich aufgewachsen. Einst sass sie für die Poch und später das linke Bündnis Basta im Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt. Im Jahr 2000 kandidierte sie für den Regierungsrat, scheiterte aber. Migration und Arbeit waren zwei Themen, die ihr Leben geprägt haben. Seit 2017 ist sie pensioniert, doch Unia-Delegierte in der internationalen Bau- und Holzarbeitergewerkschaft ist sie bis heute. Zum Interview empfängt sie in ihrer Wohnung in Basel.

Bald beginnt die WM in Katar. Alle reden jetzt über die Baustellen und die Arbeitsmigranten. Sie waren vor Ort, als Inspektorin der internationalen Bauarbeitergewerkschaft. Was haben Sie gesehen?
Rita Schiavi:
Man muss unterscheiden zwischen den Baustellen der WM-Stadien und jenen für die übrige Infrastruktur, etwa die neue Metro. Wir haben die Stadionbaustellen inspiziert. Da war die Arbeitssicherheit von Anfang an besser als auf anderen Baustellen, es herrschten europäische Standards, schliesslich wurden die Stadien ja auch oft von Firmen aus Europa gebaut.

Wann waren Sie erstmals in Katar?
Das war im Jahr 2016. Insgesamt war ich siebenmal vor Ort.

«Es hat sich in den letzten Jahren in Katar wirklich viel zum Guten verändert.»

2016 wurde bereits seit Jahren für die WM gebaut, es gab Berichte über die Situation der Arbeitsmigranten und immensen Druck auf Katar. Inwiefern ist ihr Bild repräsentativ für alle Arbeiten im Zusammenhang mit der WM?
Dort, wo die Stadien gebaut worden sind, herrschten schon vorher gute Standards, unter anderem, weil das sehr anspruchsvolle Bauten sind. Anders sah das in den Unterkünften aus, dort mussten wir intervenieren, damit sich die Situation verbessert.

Sie haben nur die Stadionbaustellen gesehen. Dort arbeitete ein Bruchteil der Arbeitsmigranten in Katar, etwa 40'000, was zwei Prozent entspricht. Wissen Sie überhaupt, wie es allen anderen erging, die Strassen, Hotels, den Flughafen bauten?
Das wissen wir zum Teil, weil wir ab 2014 viele Arbeiter organisiert haben, mit Kollegen aus Indien, Nepal, den Philippinen oder Pakistan, den Ländern, aus denen die Arbeitsmigranten oft stammen. Nicht gerade gewerkschaftlich, weil das verboten ist, aber quasigewerkschaftlich in sogenannten Community-Groups. Wir reden schon seit Jahren mit den Leuten und wissen ziemlich gut Bescheid über die Situation der Arbeitsmigranten. Und ich kann sagen: Es hat sich in den letzten Jahren wirklich viel zum Guten verändert.

Was?
Es gab viele arbeitsrechtliche Reformen: Hitzepausen, die Einführung eines Mindestlohns, die Abschaffung des Kafala-Systems. Das Hauptproblem für die Arbeiter waren die Löhne, die nicht bezahlt wurden. Rekrutierungsgebühren, die sie monatelang abstottern mussten. Und eben das Kafala-System, das sie an ihren Arbeitgeber band, gar die Ausreise verunmöglichte.

ARCHIVBILD ZUM HINTERGRUNDBERICHT ZU KATAR --- Workers walk to the Lusail Stadium, one of the 2022 World Cup stadiums, in Lusail, Qatar, Friday, Dec. 20, 2019. Construction is underway to complete Lus ...
Arbeitsmigranten auf der Baustelle eines WM-Stadions.Bild: keystone

Amnesty International sagt, diese Reformen seien bis heute nur mangelhaft umgesetzt.
Da muss man unterscheiden, wo die Leute arbeiten. Wer bei einer grossen Firma angestellt ist, hat heute keine Probleme mehr, den Arbeitgeber zu wechseln. 300'000 Arbeitsmigranten haben das schon gemacht. Prekärer ist die Situation von Hausangestellten oder Arbeitskräften, die in kleinen Betrieben arbeiten.

Sie haben gesagt, die Arbeitssicherheit sei nicht das Hauptproblem der Arbeiter. Laut dem «Guardian» sind zwischen 2010 und 2020 aber 6500 von ihnen in Katar gestorben.
Ja, ich kenne die Zahl natürlich, und sie stimmt auch, aber man muss sehen, worauf sich diese Zahl bezieht. Der «Guardian» ist zu den Botschaften jener Länder gegangen, aus denen die Arbeitsmigranten in Katar kommen, und hat Todeszahlen erfragt. So kamen 6500 Tote über zehn Jahre zusammen. Das hat aber nichts mit den Baustellen zu tun. Und noch etwas ?

... ja?
Über zehn Jahre gibt das 650 Tote pro Jahr, bei einer Population von 1,4 Millionen Arbeitsmigranten aus den angefragten Ländern. Ich habe nachgeschaut, wie viele Todesfälle es in der Schweiz bei den Leuten unter 65 im gleichen Verhältnis waren. Die Zahl ist doppelt so hoch.

Der Vergleich hinkt, weil die Arbeitsmigranten meist viel jünger sind als 65.
Ja, sie sind meist zwischen 20 und 50, aber man muss wissen: Diese 6500 umfassen alle Todesfälle, auch Verkehrsunfälle, auch Krankheiten, Herzinfarkte.

«Ein Stück weit verstehe ich die Kataris, die jetzt beleidigt sind, dass man ihre Fortschritte nicht anerkennt.»

Studien zeigen, dass in Katar mehr junge Männer an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben sind als anderswo - vermutlich, weil sie in der extremen Hitze arbeiten mussten.
Es stimmt, dass junge Männer an den Folgen der Hitze gestorben sind und dass man Todesfälle hätte vermeiden können. Wie viele es waren, wissen wir schlicht nicht. Es waren aber nicht Tausende, wie der «Guardian»-Artikel suggeriert.

Was vermuten Sie?
Die einzige gesicherte Zahl ist die der Toten auf den WM-Stadionbaustellen: drei seit dem Jahr 2016.

Das ist die Zahl, die auch von der FIFA und Katar genannt wird. Frau Schiavi, Sie reden bisher ein wenig wie eine Botschafterin für Katar.
Ich war vor Ort und habe gesehen, wie es auf den WM-Baustellen und in Unterkünften aussieht. Ich habe auch mit vielen Arbeiterinnen und Arbeitern gesprochen. Es gibt im Westen viele falsche Vorstellungen, es geht dabei teilweise auch um Vorurteile gegenüber der arabisch-muslimischen Welt. Auch ich hatte etwas anderes erwartet, bevor ich das erste Mal nach Katar reiste. Man kann sich dort frei bewegen, muss kein Kopftuch tragen. Das gilt auch für die Arbeitsmigranten.

Der Emir hat kürzlich gesagt, es werde eine beispiellose Kampagne gegen sein Land gefahren. Sie klingen bisher so, als sähen Sie das auch so.
Ein Stück weit verstehe ich die Kataris, die jetzt beleidigt sind, dass man ihre Fortschritte nicht anerkennt. Ich stelle auch fest, dass die Medien vor allem das Schlechte hören wollen. Good News dagegen kommen nicht in die Medien. Die Kampagne von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen haben übrigens auch zu diesem schlechten Image geführt, das Katar jetzt nicht mehr los wird.

Rita Schiavi sagt, den Arbeitern in Katar gehe besser als jenen für die letzte WM in Russland.
Rita Schiavi sagt, den Arbeitern in Katar gehe besser als jenen für die letzte WM in Russland.Bild: Alex Spichale

Wie meinen Sie das?
Die WM war für uns ein gewaltiger Hebel, um endlich die Situation der Arbeitsmigranten zu verbessern. Deshalb haben wir am Anfang sehr grossen Druck gemacht. Dafür muss man über die schlechten Dinge sprechen. Wir haben der FIFA die rote Karte gezeigt, haben in Zürich Kreuze für die Arbeiter aufgestellt und prognostiziert, dass in Katar 4000 von ihnen wegen der WM sterben werden. Wenn man es jetzt anschaut, muss man sagen: So schlimm war es nicht. Und vor allem: Die Situation hat sich dank unserer Intervention verbessert.

«Bezüglich der Bedingungen auf den Stadionbaustellen ist Katar besser als Russland.»

Haben Sie gelogen?
Nein, wir haben nicht gelogen, wir haben Vermutungen angestellt, basierend auf dem Wissen, das wir damals hatten.

Sie wussten ja nichts.
Wir haben extrapoliert aufgrund von allgemeinen Todesfällen.

Sie kämpfen schon Ihr ganzes Leben für bessere Arbeiterrechte. Hand aufs Herz: War diese WM für Ihre Sache jetzt gut oder schlecht?
Ich will mich nicht dazu äussern, ob Katar nun ein sinnvoller Ort ist für eine WM oder nicht. Für uns war sie, wie gesagt, ein Hebel, um die Situation der Arbeitsmigranten zu verbessern. Den gleichen Hebel haben wir in Südafrika, Brasilien und Russland eingesetzt und wir haben es so in den letzten Jahren geschafft, dass man vor einer WM nicht mehr nur über die Fussballer spricht, sondern auch über die Situation der Arbeiter. Das ist unser Verdienst. Nur ist es auch so, dass die Debatte heute in meinen Augen teilweise sehr scheinheilig geführt wird.

Auch in der Schweiz?
Ja, natürlich. Für die Toten auf unseren Baustellen – laut Unia im Durchschnitt 13.4 pro 100'000 Arbeiter – interessiert sich nie jemand. Dass wir einst Tausende Arbeiter mit dem Saisonnierstatut ins Land holten, das dem Kafala-System nicht unähnlich ist, haben die meisten Leute längst vergessen. Wie es den Migranten geht, die in Süditalien auf Tomatenplantagen schuften, will auch keiner hören. Die Tomaten essen wir, ohne uns Fragen zu stellen. Und bezüglich der WM 2022 finde ich diesen eurozentristischen Blick störend. Alle ärgern sich über die Winter-WM. Die Südamerikaner kannten es bisher gar nicht anders.

Die internationale Bauarbeitergewerkschaft inspiziert schon länger WM-Baustellen. Wie steht Katar eigentlich im Vergleich mit Brasilien, Südafrika oder Russland da?
Nicht so schlecht, und bezüglich der Bedingungen auf den Stadionbaustellen besser als Russland. Dort gab es viel mehr Tote, viel mehr Unfälle, es wurden teilweise nordkoreanische Zwangsarbeiter eingesetzt. Wir haben darauf hingewiesen, aber es gab nie das gleiche Interesse wie jetzt und schon gar keinen Aufschrei. In Katar haben wir auch viel grössere arbeitsrechtliche Reformen erreicht. Und dann ist es auch so, dass die Arbeiter in Katar krankenversichert sind, Zugang zu Ärzten haben, oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Man muss auch sehen, woher die Arbeitsmigrantinnen und -migranten stammen. Sie kommen aus Ländern, wo die Arbeitsbedingungen und auch die Wohn- und Lebensbedingungen schlechter sind.

Arbeiterunterkunft in Doha im Jahr 2013: Dank der Intervention der Gewerkschaften habe sich vieles verbessert, sagt Rita Schiavi.
Arbeiterunterkunft in Doha im Jahr 2013: Dank der Intervention der Gewerkschaften habe sich vieles verbessert, sagt Rita Schiavi.Bild: keystone

Also darf man sie auch in Katar schlecht unterbringen? Keine überzeugende Logik.
Nein, natürlich nicht, aber man muss einfach wissen: Diese Jobs auf den Baustellen sind begehrt. Die Unterkünfte, über die bei uns so heftig diskutiert wurde, sind für die Arbeiter nicht das grösste Übel. Für sie steht der Lohn im Mittelpunkt. Und ganz schlimm ist für sie, wenn der Lohn nicht bezahlt wird. Die Arbeiter schicken den Grossteil des Gelds, das sie verdienen, nach Hause. Ihre Familien haben ein Einkommen, die Kinder können zur Schule.

Die NGO haben es vielleicht geschafft, dass Katar Arbeiterrechte einführt, aber das bringt nur etwas, wenn sie nach der WM nicht gleich wieder abgeschafft werden.
Ja, und dafür kämpfen wir sehr. Zum Beispiel für sogenannte Worker-Centers, Zentren für Arbeiter, wo sich die Leute Beratung und rechtliche Unterstützung holen können.

Legen Sie die Hand ins Feuer, dass Katar sein Arbeitsrecht nicht bald wieder zurückbaut?
Nein, das kann ich nicht. Wir wissen, dass es in der Herrscherfamilie verschiedene Strömungen und verschiedene Interessen gibt. Wir haben Angst, dass es zu Rückschritten kommt.

Haben Sie eigentlich etwas am Hut mit Fussball?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe noch nie ein Fussballspiel im Stadion angeschaut! Aber, weil mein Sohn selbst Fussball gespielt hat und ein grosser Fan des FC Basel war, habe ich immer versucht, einigermassen informiert zu sein.

Rita Schiavi reist mit ihrem Sohn an die WM.
Bild: Alex Spichale

Also war Fussball für Sie immer nur ein Mittel zum gewerkschaftlichen Zweck?
Die WM war für uns ein Hebel, um die Arbeitsbedingungen der Arbeiter zu verbessern. Und ich fahre nun auch selbst an die WM und werde erstmals live ein Spiel mitverfolgen.

Auf Einladung aus Katar?
(Schmunzelt) Nein, natürlich nicht, auf eigene Kosten - und das wird ganz schön teuer.

Eine letzte Frage noch, sie treibt viele Fans um: Darf man das, diese WM schauen?
Ja, ich finde, man darf das – es hätte für mich mehr Gründe gegeben, die WM in Russland nicht zu schauen. Und überhaupt finde ich, dass man eher die FIFA in Frage stellen sollte als Katar. Schliesslich vergibt sie die Turniere und befeuert seit Jahren den Trend zum Gigantismus. (aargauerzeitung.ch)

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61 Kommentare
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sansibar
08.11.2022 16:25registriert März 2014
Danke. Spannend. Man muss dieses Thema schon differenziert betrachten, auch wenn ich unter dem Strich immer noch gegen diesen Anlass bin. Irgendwelche reisserische Headlines bringen da niemandem etwas - ob sie nun 3 oder 6500 Tote nennen… und, fast noch wichtiger: eine WM sollte einfach dort stattfinden, wo schon Infrastruktur vorhanden ist 🤷‍♂️
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ChillDaHood
08.11.2022 16:51registriert Februar 2019
Wenn ich auch skeptisch zurückbleibe und ein paar Fragen habe, danke für diesen Artikel und den differenzierten Blick auf das Thema...
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rodman
08.11.2022 16:34registriert Juli 2015
Danke Watson für das Interview. Geführt mit einer Sachverständigen, die das vor Ort x-fach geprüft hat, die nicht im Verdacht steht, Propaganda zu verbreiten und die nicht die herrschende Meinung der Kommentierenden bestätigt.

Merci für diese journalistisch einwandfreie Arbeit!
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