Der Kontrast könnte nicht grösser sein. Als letztmals ein grosses Fussballturnier in Deutschland stattfand, war die Euphorie in der Schweiz grenzenlos. In epischen Barragespielen gegen die Türkei hatte sich die Nationalmannschaft für die WM 2006 qualifiziert.
Nun gastiert die Fussballwelt erneut in unserem nördlichen Nachbarland, aber euphorisch ist kaum einer zwischen Bodensee und Genfersee. In einer repräsentativen watson-Umfrage glauben je rund ein Drittel an ein Ausscheiden nach der Vorrunde beziehungsweise nach den Achtelfinals.
Für die gedämpfte Stimmung gibt es Gründe. Einerseits hat sich der Anhang daran gewöhnt, WM- oder EM-Teilnehmer zu sein. Andererseits war die Qualifikationsphase in einer selten einfachen Gruppe eine enorm zähe Angelegenheit. Und drittens hallt immer noch die heftige 1:6-Niederlage gegen Portugal im WM-Achtelfinal 2022 nach.
Der Trainer heisst wie damals immer noch Murat Yakin. Er hielt allen Stürmen stand, muss sich nun aber in Deutschland bewähren. Gelingt seiner Mannschaft kein Exploit, oder wenigstens ein couragierter Auftritt, wird Yakin nach dem Turnier nicht mehr Nationaltrainer sein.
Gegen Ungarn, Schottland und Deutschland muss der frühere Nati-Verteidiger seine Kreativität beweisen. Denn während Yakins Abwehr so sattelfest ist wie die SBB pünktlich, hat seine Offensive mehr mit der Deutschen Bahn gemein. Es deutet nicht besonders viel darauf hin, dass in Deutschland die eidgenössische Version eines Sommermärchens geschrieben wird.
Es sei denn, Yakin gelingt es, den Mangel an treffsicheren Stürmern zu kaschieren. Der Trainer, der auch schon als «Gambler» bezeichnet wurde, ist taktisch variabel. Und mit Giorgio Contini hat er einen neuen Co-Trainer an der Seite, der einst ein erfolgreicher NLA-Stürmer war. Ob das Duo die richtigen Lösungen findet, zeigt sich in den nächsten acht Tagen. Der Auftakt gegen Ungarn wird nach den Eindrücken des Eröffnungsspiels (Deutschland – Schottland 5:1) wohl schon die Schlüsselpartie um Rang 2.
Was Mut macht, ist das Wissen um eine starke Defensive um Goalie Yann Sommer und Verteidiger Manuel Akanji. In den vier Testspielen in diesem Jahr kassierte die Schweiz nur ein Gegentor. Zusammen mit Captain Granit Xhaka, dem Leitwolf des ungeschlagenen Bundesliga-Champions Bayer Leverkusen, bilden Sommer und Akanji eine Achse, die wohl in jedem der 24 Teams willkommen wäre. Bei der herrschenden Miesepetrigkeit im Land ist umso mehr auf diesen Umstand hinzuweisen. Es ist nicht alles schlecht.
Nur gewinnt man halt kein Fussballspiel, wenn man kein Tor schiesst. Vielleicht kann Xherdan Shaqiri einmal mehr an einem Turnier für magische Momente sorgen. Vielleicht sticht der technisch beschlagene Ruben Vargas. Vielleicht sind der Speed von Dan Ndoye, Noah Okafor oder Zeki Amdouni entscheidende Trümpfe. Und vielleicht ist Breel Embolo gesund und eine Verstärkung.
Ja, da ist etwas gar viel «vielleicht» dabei. Aber der Fussball lebt nicht zuletzt vom Spiel mit der Hoffnung.
Das war beim bislang letzten grossen Coup einer Schweizer Nationalmannschaft nicht anders. Vor drei Jahren an der letzten EM stand sie nach einem enttäuschenden 1:1 gegen Wales und einem komplett chancenlosen 0:3 gegen Italien vor dem Aus. Dann glückte dank einem Sieg über die Türkei doch noch der Einzug in die Achtelfinals – wo die Schweiz in einem begeisternden Match den Favoriten Frankreich rauskegelte.
Before the final exam vs after I barely managed to pass the exams. pic.twitter.com/aDxJfX2CvK
— Troll Football (@TrollFootball) June 28, 2021
Der Funke entfachte ein Feuer der Begeisterung. Manchmal braucht es wenig. Vielleicht auch in diesem Jahr.