Zur Freude bleibt keine Zeit, zum Shake-Hands erst recht nicht – und das obwohl sich die Schweiz dank dem 2:0-Heimsieg und der 2:4-Niederlage in der Türkei erstmals seit zwölf Jahren wieder für eine Fussball-WM qualifiziert.
Kaum pfeift der belgische Schiedsrichter Franck De Bleeckere das Barrage-Rückspiel im Şükrü-Saracoğlu-Stadion von Istanbul ab, sprinten die Nati-Helden los, als ob es um ihr Leben ginge. Richtung Katakomben. Einfach weg von hier. Es wird ein Spiessrutenlauf.
Die TV-Zuschauer trauen ihren Augen nicht. In wilden Jagdszenen hetzen die Türken die Schweizer übers Spielfeld. Ein türkischer Betreuer stellt Valon Behrami auf dem Weg in den Tunneleingang ein Bein, Emre packt einen Schweizer am Kragen. Stéphane Grichting kassiert einen Tritt in den Unterleib und muss ins Spital eingeliefert werden. Schliesslich kommt Benjamin Huggel von hinten angerannt und rächt seine Kollegen.
Der türkische Innenverteidiger Alpay attackiert Marco Streller von hinten mit einem Fusstritt in den Oberschenkel. Der anfliegende Huggel packt darauf Alpay im Genick und geht selbst zu Boden. Danach geht die Prügelei im Spielertunnel weiter. Philipp Degen flüchtet mitten im Interview mit der ARD. Als der Kameramann ins Getümmel schwenkt, wird auch er verprügelt.
Die türkischen Sicherheitskräfte halten sich vornehm zurück oder mischen ebenfalls mit. Nur die Bundesliga-Profis Hamit und Halil Altintop sowie Yildiray Bastürk eilen den Schweizern zu Hilfe und eskortieren sie aus der Prügelzone. «Sie haben auf uns eingeprügelt», sagt Raphael Wicky später. Köbi Kuhn spricht von «Verfolgung bis in die Kabine.» Beni Huggel ärgert sich über sich selbst: «Jetzt werde ich wohl hundert Jahre gesperrt.»
Erst zwei Stunden nach dem Spiel können die Schweizer – inklusive Grichting, der wegen einer gerissenen Harnröhre mit einem Katheter aus dem Spital zurückkehrt – endlich feiern. In ihrem Luxushotel am Ufer des Bosporus steigt die grosse WM-Party. Nur einem ist nicht so recht danach zu Mute. Alex Frei sitzt allein in einem Sessel in der Hotel-Lobby und fragt sich: «Wie kann so etwas passieren?»
Angefangen hat alles zu Beginn des Hinspiels im Berner Stade de Suisse. Die türkische Nationalhymne geht im gellenden Pfeifkonzert der Schweizer Fans komplett unter. Sicher nicht die feine Art und für die Türken eine Provokation sondergleichen.
Dank Toren von Philippe Senderos und Valon Behrami gewinnt die Schweiz die Partie mit 2:0, die gegenseitigen Sticheleien beginnen schon da. Als Ludovic Magnin vor der türkischen Bank einwerfen will, rollt plötzlich ein zweiter Ball an ihm vorbei. Der Romand stoppt ihn und tut so, als wolle er ihn mit voller Wucht zur Auswechselbank knallen. Doch er tritt drüber.
Nach der Partie gibt es die ersten Handgreiflichkeiten. Ein türkischer Spieler stellt Senderos das Bein, Trainer Fatih Terim geht auf Alex Frei los. Es geht drunter und drüber. Beide Seiten werfen einander Dinge an den Kopf, es verbreiten sich «Halbwahrheiten». Terim bleibt der Pressekonferenz fern, weil er angeblich den Weg nicht gefunden hat. Oder war es Respektlosigkeit? Nati-Trainer Köbi Kuhn sagt stellvertretend für die meisten: «Ich weiss nicht genau, was vorgefallen ist.»
Die türkische Presse nimmt die Vorfälle gerne auf und heizt die Stimmung an. Durch das Hochspielen vermeintlicher Provokationen des Gegners glaubt man, der eigenen Mannschaft und den Fans zu noch grösserer Motivation zu verhelfen. «Kadiköy (der Stadtteil, in dem das Şükrü-Saracoğlu-Stadion steht, Anm.d.Red.) wird ein Hexenkessel», kündigt die Zeitung «Hürriyet» schon mal an.
Zwei Tage nach dem 2:0-Sieg fliegt die Schweiz nach Istanbul. Am Atatürk-Flughafen kriegt die Nati einen ersten Vorgeschmack auf das, was sie später im Stadion erwarten wird. Bereits im Fingerdock werden sie mit türkischen Schlachtrufen des Flughafen-Personals eingedeckt. Bei der Einreise werden die Schweizer hingehalten, 21 Minuten lang blättert ein Zöllner im separaten Kabäuschen durch Alex Freis Pass, bis er den genervten Stürmer endlich durchlässt.
Als Köbi Kuhn den Zoll passiert, ist er schnell nicht mehr allein. Fanatische Fans – woher auch immer sie gekommen sind – schwenken die türkische Fahne vors Gesicht des Schweizer Coachs, klettern aufs Gepäckband, heben die Hand, schreien «Fünf, fünf, fünf!». Die Botschaft ist klar: «Fünf Tore werdet ihr Schweizer kassieren.» Kuhn hat nur ein müdes Lächeln übrig. Endlich, nach insgesamt zweieinhalb Stunden, betritt die Schweizer Delegation die Ankunftshalle.
Dort wird's noch ungemütlicher. «Welcome to Hell» steht auf einem Plakat, «Fuck you Switzerland» auf dem nächsten. Terim-Intimfeind Frei wird besonders «herzlich» begrüsst: «Hurren Son Frei» steht auf dem Zettel.
Pfiffe, türkische Fangesänge und Drohungen: Die Stimmung ist extrem aufgeheizt. Auf dem Weg zum Kempinski Hotel wird der Bus mit Eiern, Tomaten und Steinen beworfen. «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt Alex Frei. «Aber wird dürfen uns nicht einschüchtern lassen.» Das geplante Training am Abend wird trotzdem abgesagt.
Die Schweizer sind trotz – oder gerade wegen – der Vorfälle im Vorfeld hellwach, als die Partie am Mittwochabend vor 40'000 fanatischen Fans angepfiffen wird. Noch ist keine volle Minute gespielt, als die Schweiz nach einem Handspiel im Strafraum einen Penalty zugesprochen erhält. Alex Frei versenkt ihn und nun brauchen die Türken schon vier Treffer.
Doch nach der Führung verlieren die Schweizer plötzlich ihre Souveränität. Noch vor der Pause drehen die Türken dank einem Doppelpack von Tuncay die Partie. Als kurz nach Wiederbeginn Necati einen Penalty zum 3:1 versenkt, droht die Partie endgültig zu kippen.
Doch in der 84. Minute hat der eingewechselte Marco Streller, der zuvor den Penalty verschuldete hatte, den wohl grössten Auftritt seines Lebens. Nach einer Kerze von Tolga lanciert Frei seinen Sturmkollegen, der alleine auf Torhüter Volkan ziehen kann. Souverän umkurvt Streller diesen und schiebt zum erlösenden 2:3 ein. Die Türken erhöhen zwar noch auf 4:2, die Schweizer retten den Vorsprung aber über die Runden und sprinten los.
Natürlich nimmt sich die FIFA der «Schande von Istanbul» an. «Wir werden handeln und hart durchgreifen. Das Fairplay ist mit Füssen getreten worden», sagt Sepp Blatter. «Das sage ich Ihnen nicht als Schweizer, sondern als FIFA-Präsident.»
Im Februar 2006 wird das Strafmass bekannt und das hat es in sich. Der türkische Verband wird zu einer Geldstrafe von 220'000 Franken verurteilt. Die nächsten sechs Heimspiele finden auf neutralem Boden und ohne Zuschauer statt.
Die türkischen Rädelsführer Alpay und Emre werden für jeweils sechs Spiele gesperrt und müssen je 16'000 Franken berappen. Serkan Balci muss zwei Pflichtspiele zusehen und 5500 Franken zahlen. Assistenz-Coach Mehmet Özdilek wird für zwölf Monate für alle fussball-bezogenen Aktivitäten innerhalb des FIFA-Bereichs gesperrt.
Auch Benjamin Huggel wird zu einer Zwangspause von sechs Nati-Spielen verurteilt. Dazu kommt eine Busse über 15'500 Franken. Daneben wird auch Physiotherapeut Stephan Meyer bestraft. Er erhält eine Sperre für zwei Spiele und eine Geldstrafe von 7000 Franken.
Beide Verbände fühlen sich danach von der FIFA ungerecht behandelt. Und auch Huggel, der dadurch die WM 2006 in Deutschland verpassen wird, hadert mit dem Urteil: «Mich stört in erster Linie, dass die türkischen Spieler die gleiche Strafe wie ich kassiert haben. Ich finde, dass sie schlimmere Dinge getan haben als ich.»
Ob er bereue, was er getan habe, wird der damalige Bundesliga-Legionär gefragt. «Ja und nein», sagt Huggel. «Natürlich bereue ich objektiv die Aktion, weil sie mich um meine WM-Teilnahme bringt. Subjektiv war sie ein Reflex, der jedem Mensch passieren kann.» Später wird seine Sperre – wie diejenigen der Türken – reduziert. Vier Spiele muss «Bauernopfer» Huggel am Schluss absitzen.
An der EM 2008 im eigenen Land ist der Basler wieder dabei, zum Zug kommt er allerdings nicht. Von der Bank aus muss er mitansehen, wie sich die Türkei beim 2:1-Sieg in der «Regenschlacht von Basel» mit einem Last-Minute-Treffer an den Schweizern für das Scheitern in der Barrage 2005 revanchiert und den Gastgeber vorzeitig aus dem Turnier wirft.
Die Türkei resp. der türkische Verband hätte viel strenger bestraft werden sollen. Nicht wegen den Vorkommnissen im Stadion (da kann man streiten, inwieweit er dafür verantwortlich ist), sondern für das Verhalten vor dem Spiel, am Flughafen. Vor allem dieses Schikanieren hätte rigoros geahndet werden sollen. Wer die Sicherheit des Gastes auf der Reise und Landung derart missachtet und gefährdet, hätte als Strafe einen Ausschluss aus der nächsten Qualifikationsrunde verdient - bis man ein gutes Konzept nachweisen kann.
Das habe ich schon damals so gesagt!