Es ist vollbracht! Die Nati qualifiziert sich für die EM 2024! Herausragend! Grossartig! Fantastisch! Jubel! Euphorische Fans. Freudentrunkene Spieler. Die Schweiz, ein einig Volk im Fussball-Glück. So könnte das sein an einem Abend, an dem klar wird, dass die Nati erneut an ein grosses Turnier reist. Zum sechsten Mal hintereinander. Für zehn der letzten elf Welt- und Europameisterschaften seit 2004 hat sich die Schweiz qualifiziert. Es ist eine herausragende Bilanz.
Nur: So ist das nicht. Nicht nach diesem nasskalten Abend in Basel. Nicht nach diesem mickrigen 1:1 gegen einen bescheidenen Kosovo, der erst noch massiv ersatzgeschwächt angetreten ist.
Die Schweizer Seele ist angeschlagen. Trotz EM-Qualifikation. Natürlich, hier ein paar Sätze der Freude und da ein Winken in die Kameras oder zu den Familien auf der Tribüne. Aber echte Freude? Nein. Die fünf Unentschieden in dieser schwachen Qualifikationsgruppe wiegen schwer. Seit März stehen einzig gegen Andorra zwei Siege in der Bilanz. Dafür ganz viel Knorz und noch mehr unerklärliche Zusammenbrüche des gesamten Teams.
Es ist kein Vergleich zur umjubelten WM-Qualifikation vor mittlerweile zwei Jahren. Damals, als die Nati mit einem berauschenden 4:0 gegen Bulgarien den Rivalen Italien in letzter Sekunde noch abfing. Eher erinnert die Szenerie an die Barrage für die WM 2018 gegen Nordirland. Auch damals war die Schweizer Seele angeschlagen. Das lag an den Pfiffen gegen Haris Seferovic.
Immerhin ist diesmal keine überschäumende Wut zu spüren auf den Rängen. Eher eine stille Resignation. Darum gilt: Die Qualifikation für die EM 2024 ist so steril und emotionslos wie noch keine andere Qualifikation in der Schweizer Fussball-Geschichte.
Drinnen im Medienraum des St.Jakob-Parks sitzt der Chef. Auch wer Murat Yakin zuhört, kommt kaum auf die Idee, dass da jemand spricht, der soeben ein grosses Ziel erreicht hat. Die Stimmung ist ein Abbild für diesen Herbst. Irgendwann sagt Yakin lakonisch: «Vielleicht muss ich mich entschuldigen, dass wir uns nicht schon nach sechs Spielen für die EM qualifiziert haben. Aber das ist Fussball.» Yakins Fazit zum Spiel gegen den Kosovo? «Der Hunger für den Sieg hat mir in gewissen Momenten gefehlt.»
Natürlich ist auch ihm die Kritik nicht entgangen, die seiner Mannschaft und vor allem ihm selbst entgegenschlägt. Direkt im Anschluss an das Spiel nennt es Yakin eine «persönliche Abrechnung». Aber Fakt ist eben auch: Die Schweiz hat im Jahr 2023 krasse Rückschritte gemacht. Und das Team erleidet als Ganzes immer wieder Phasen, wo alles auseinanderfällt. Das Spiel gegen den Kosovo ist nur das nächste Beispiel dafür. Und wenn das so ist, sind kritische Fragen an die Adresse des Trainers nicht nur folgerichtig, sondern zwingend.
Yakin sieht das nicht so. Wie er mit dieser Kritik persönlich umgehe, wird er noch gefragt, kurz vor Mitternacht. «Ich verstehe es manchmal auch nicht. Wir arbeiten seriös, wir zeigen tollen, attraktiven Fussball. Wir sind wieder für ein grosses Turnier qualifiziert. Was soll ich über die Kritik sagen? Ich sehe, dass die Spieler Freude haben. Ich sehe Spieler, die harmonieren. Für mich ist das unverständlich. Aber es beeinflusst meine Arbeit nicht. Ich gehe weiter mit positivem Elan an meinen Job. Das ist das Einzige, das zählt.»
Fast gleichzeitig wie Yakin tritt unten im Bauch des Stadions Pierluigi Tami vor die Medien. Tami ist der Chef von Yakin. Und schon allein deshalb ist es interessant, wie er diese EM-Qualifikation wertet.
Tami tut, was er in dieser Situation tun muss. Er legt einen hoch diplomatischen Auftritt hin. Zehn Minuten spricht er über die Lage der Nation. Immer so, dass seine Aussagen in alle Richtungen gedeutet werden könnten. Das tönt dann so: «Glauben Sie mir, ich bin sehr, sehr froh, dass wir uns für die EM qualifiziert haben.» Um dann gleich anzufügen: «Es hat alles sehr gut begonnen, doch dann kam Unsicherheit in den Köpfen und Beinen der Spieler auf.» Das erste Ziel sei erreicht. Aber jetzt gehe es auch um den Gruppensieg. «Und dieser ist mir wichtig.» Tami wird das auch den Spielern mitteilen.
Natürlich wird auch Tami auf die Zukunft von Yakin angesprochen. Er wiederholt dabei, was er schon am letzten Montag sagte: «Es wird im Dezember eine Analyse geben, in der es nicht nur um die Leistungen geht, sondern auch um die Entwicklung der Mannschaft.» Mehr lässt er sich nicht entlocken. Er vermeidet es, den Trainer bereits offensichtlich zum Abschuss freizugeben. Aber er vermeidet es auch, ihm unmissverständliche Rückendeckung zu geben. Vielleicht erinnert Tami das alles ja auch ein bisschen an seine letzte eigene Entlassung als Trainer – bei GC war das, im März 2017.
Als Xherdan Shaqiri mit grimmigem Blick zur Aufarbeitung dieses Abends schreitet, stellt er eines ziemlich schnell klar: «Warum sollen wir über dieses Spiel reden? Wir haben uns für die EM qualifiziert! Für eine Analyse ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, dafür bleibt bis zur Endrunde genügend Zeit.»
Shaqiri selbst hat nicht den besten Abend hinter sich. Es gelingt ihm wenig. Und so endet auch das dritte Duell mit seiner zweiten Heimat, dem Kosovo, unentschieden. «Wir alle haben hohe Ansprüche an uns selbst. Dafür haben wir auch selbst gesorgt. Nur bedeutet das eben nicht, dass es immer gut läuft. Es muss viel stimmen bei uns für den Erfolg.»
Als sich das Gespräch um den Trainer dreht und darum, ob er Verständnis hat dafür, dass Yakins Job diskutiert wird, entgegnet er halb grimmig, halb lächelnd: «Das ist jetzt nicht gerade eine gute Frage. Wir haben die EM-Qualifikation geschafft und können Gruppenerster werden. Dann ist die Frage überflüssig.»
Granit Xhaka hält derweil fest: «Wir können stolz und glücklich sein über die Qualifikation. Wie wir es geschafft haben – darauf etwas weniger.» Und ganz generell stellt er fest: «Es ist ein bisschen der Wurm drin.» Was muss geschehen, damit die Abwärtstendenz gestoppt wird? «Vielleicht fällt ja jetzt der komplette Druck ab. Vielleicht können wir wieder befreit aufspielen in Rumänien.»
Auch er selbst ist mit seinen Leistungen ein Teil des unerklärlichen Nati-Rätsels in diesem Herbst. Xhaka ist im Nati-Trikot nicht derselbe Spieler wie im Leverkusen-Trikot. Er strahlt nicht das Selbstbewusstsein aus wie in der Bundesliga. Und auch nicht dieselbe Seriosität. Woran das liegt, das ist eine der grossen Fragen.
Seit dem letzten März hat die Schweiz nur noch gegen den Fussball-Zwerg Andorra gewonnen. Dafür aber gleich fünf Mal Remis gespielt. Aus der Resultatkrise ist längst eine echte Krise geworden. Das Selbstverständnis der problemlosen Siege gegen kleinere Nationen, das sich die Nati unter Vladimir Petkovic erarbeitet hat, ist längst weg.
Erschwerend kommt ein mentales Problem dazu. Bei sämtlichen fünf Unentschieden lag die Nati zuvor in Führung. Vier Mal kassierte man in den letzten Minuten oder gar Sekunden den Ausgleich. Gegen Weissrussland gelang es immerhin noch, in der Nachspielzeit von 1:3 auf 3:3 zu stellen, an der blamablen Vorstellung änderte das selbstredend nichts.
Mittlerweile scheinen auch die Spieler selbst zu erahnen, dass sie spätes Unheil ereilen wird. Und auch der Gegner ist sich dessen bewusst. So zumindest liessen das die Kosovaren am späten Samstagabend nach dem 1:1 in verblüffender Ehrlichkeit durchblicken. «Wir wussten, die Schweizer werden am Ende nervös», sagte beispielsweise Ex-FCZ-Spieler Fidan Aliti. Es wäre also durchaus von Vorteil, wenn es den Schweizern gelingen würde, diese Malaise noch vor der EM aus den Köpfen zu bringen. Am besten schon in Rumänien. Und dann auch im März bei zwei Testspielen (u. a. gegen Deutschland?).
Heute Sonntag um 16:30 Uhr fliegt der Schweizer Tross nach Bukarest. Auch wenn derzeit niemandem so richtig zum Feiern zumute ist, wird die Reise einige tolle Gefühle auslösen. Schliesslich ist Bukarest der Ort, an dem die Nati den grössten Erfolg der Neuzeit erlebt hat.
Am 29. Juni 2021 besiegt die Nati im EM-Achtelfinal Frankreich. Nach 75 Minuten liegt die Schweiz scheinbar hoffnungslos 1:3 zurück, doch Seferovic und Gavranovic retten die Verlängerung. Im Penaltyschiessen treffen alle Schweizer (der Reihe nach Gavranovic, Schär, Akanji, Vargas und Mehmedi), ehe Sommer den letzten Versuch von Mbappé hält.
Damals gelingt es den Schweizern, das Publikum auf ihre Seite zu ziehen. Auch die vielen Rumänen sind begeistert von der solidarischen Leistung der Nati. Am Dienstag wird es anders sein. Im Duell der beiden bereits qualifizierten Teams der Gruppe I vor gut 55'000 Zuschauern sind die Sympathien klar verteilt. Eine gute Nachricht gibt es aus Schweizer Sicht dennoch. Valentin Mihaila ist nach einem Platzverweis gegen Israel gesperrt. Mihaila ist jener Mann, der im Juni im ersten Duell beim 2:2 zwei späte Tore schoss. Und die Nati damit in jene Krise beförderte, aus der sie bis heute nicht mehr herausgefunden hat.
Am Samstag, 2. Dezember ab 18:00 Uhr findet in Hamburg die Auslosung der EM-Gruppen statt. Dann weiss die Schweiz, mit wem sie es am Turnier in Deutschland zu tun bekommt. In welchem der vier Lostöpfe sie gesetzt ist, weiss die Nati direkt im Anschluss an das Spiel vom Dienstag in Rumänien. Bei einem Sieg ist es Topf 2. Bei einem Remis oder einer Niederlage nur Topf 4. Mit anderen Worten: Es würde eine Hammergruppe drohen.