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Wutanfälle und mentale Höhenflüge – so tickt WM-Hoffnung Simon Ehammer

ABD0091_20220528 - G�TZIS - �STERREICH: 100 m Lauf: Simon Ehammer (SUI) am Samstag, 28. Mai 2022, im Rahmen des Mehrkampfmeetings in G�tzis. - FOTO: APA/DIETMAR STIPLOVSEK
Ein bisschen Tirol. Ein bisschen Ostschweiz. Ein bisschen Gelassenheit. Und ganz viel Ehrgeiz: Simon Ehammer.Bild: keystone

Wutanfälle und mentale Höhenflüge – so tickt WM-Hoffnung Simon Ehammer

Vor einem Jahr noch verpasste er wegen einer Verletzung die Olympischen Sommerspiele, nun tritt er in der Nacht auf Samstag an der WM als Medaillenhoffnung für die Schweiz im Weitsprung an: Zehnkämpfer Simon Ehammer reitet auf einer Welle. Wie ist sein Erfolg zu erklären? Vier Menschen aus seinem Umfeld erzählen.
15.07.2022, 07:37
Ralf Streule / ch media
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Dario Cologna hat sich abgemeldet, Roger Federer und Simon Ammann dürften bald folgen. Der Schweizer Sport braucht neue Aushängeschilder. Da kommt einer wie Simon Ehammer wie gerufen. Ein junger Sportler, der auf höchster Stufe mitmischt und dabei eine Leichtigkeit ausstrahlt, über die man staunt. Im Weitsprung wie im Zehnkampf riss er 2022 den Schweizer Rekord an sich, nun startet er an der WM als Medaillenkandidat im Weitsprung, mitten unter den Spezialisten (siehe Infobox unten).

Wenige Tage vor seinem WM-Auftritt treffen wir den 22-jährigen Appenzeller in Teufen – zusammen mit Trainer René Wyler und Freundin Tatjana Meklau. Wir lassen zudem seinen Entdecker und den Vater zu Wort kommen. Eine Annäherung ans Phänomen Ehammer.

Am ersten WM-Wochenende bereits im Einsatz
Simon Ehammer startet in der Nacht auf Samstag (3 Uhr) an der WM in Eugene (USA) in der Weitsprung-Qualifikation – und will dabei als Mehrkämpfer die spezialisierten Weitspringer übertrumpfen. Die Medaillenchancen sind intakt, Ehammer hält mit den 8,45 m von Götzis die Jahresweltbestleistung. WM-Mitfavorit ist unter anderem der griechische Olympiasieger Miltiadis Tentoglou. Der Final findet in der Nacht auf Sonntag statt.

Ehammer sagt: «Von Quali-Out bis Goldmedaille sehe ich alles im Bereich des Möglichen. 32 Männer sprangen 2022 schon über 8 Meter, 15 davon sind fähig, über 8,20 zu springen, sie alle sind Medaillenkandidaten.» Es ist nicht so, dass sich Ehammer zuletzt im Training explizit auf den Weitsprung konzentriert hätte. «Ich habe wie gehabt weitertrainiert, das heisst: normales Mehrkampftraining mit vielen Würfen, viel Hürdentraining, Stabhochsprung.» Schliesslich wird der 22-Jährige an der EM in München Mitte August dann im Zehnkampf starten. (rst)

Franz Ehammer, 51, Vater

Der Tiroler kam in jungen Jahren als Carchauffeur weit herum – die Liebe brachte ihn in die Schweiz. Nach der Geburt von Simon im Februar 2000 lebte die junge Familie im Tirol, entschied sich dann, in Mutters Heimat zu ziehen: in die Ostschweiz. Nach St.Gallen, später nach Stein AR, damals schon mit den jüngeren Geschwistern Simons, den Zwillingen Lea und Andrin. Franz Ehammer arbeitet als Teamleiter bei den St.Galler Verkehrsbetrieben (VBSG).

FRANZ EHAMMER
FRANZ EHAMMERBild: zvg

Franz Ehammer: «Wir sind ex­trem stolz auf das, was Simon geschafft hat. Vor wenigen Jahren noch hätten wir nie geglaubt, dass er so schnell an der Weltspitze sein würde. 2021 musste er ja unten durch wegen einer Verletzung. Wie er das wettgemacht hat! 8.45 Meter – so weit ist 2022 noch niemand gesprungen. Es ist schon lustig: Als ich während des Open Air St.Gallen im Einsatz war für die VBSG, sprachen mich sehr viele auf mein Namensschild an. Sie fragten: ‹Kennst du den Simon?›. Da gab's jeweils ein Hurra, als ich sagte, ich sei der Vater. Und dann wurde gleich auch noch ausgeschritten, wie viel 8.45 Meter in etwa sind. Bei Simons Wettkämpfen bin ich meist dabei. In die USA an die WM schaffe ich es nicht – in München an die EM dann schon.

Ich freue mich für Simon, weil ich weiss, wie unglaublich viel er investiert hat. Obschon es zunächst nicht nach einer Leichtathletik-Karriere aussah. Er war im Fussball, erst mit elf Jahren wechselte er, nachdem er an einem Schülerrennen von Leichtathletiktrainer Beat Schluep dazu motiviert wurde. Nach dem ersten Training kam Simon gefrustet nach Hause. ‹So ein Kindergarten›, sagte er. Er wollte Trainings, kein Spassprogramm. Erst, als er mit älteren Kindern trainieren durfte, wurde es für ihn interessant. Mit 13 Jahren wechselte er an die Sportschule in Teufen. Was ist der Simon bei Regen und Schnee mit dem Töffli von Stein nach Teufen in jedes Training gefahren! Da zeigte sich: Er meint es ernst.

Ob er die Sportlichkeit von mir hat? Ich liebe Sport, habe mich aber nie nur auf eine Sportart konzentriert. Fussball, Ski... im Basketball war ich trotz meiner 1.75 m in der Tiroler Auswahl. Im Skifahren hätte es der Simon auch weit gebracht. Was er wohl schon von mir hat, ist die Tiroler Gelassenheit und Direktheit. Von der Mama wohl die Präzision und das Zielstrebige. Was Simon noch fehlt, ist das Organisieren. Da sind halt schon noch Flausen im Kopf.

Von Eifersucht der Zwillinge habe ich nie etwas gespürt. Sie eiferten ihm nach, machten beide auch Leichtathletik, Andrin unterdessen Fussball. Auch sie sind ehrgeizig, Simon hat aber schlicht mehr investiert. Simon war es immer wichtig, den kleineren Geschwistern im Sport zu zeigen: ‹Hey, der Chef bin im Fall ich.›»

Was Simon Ehammer dazu sagt: «Ich bin sicher: Die Mischung Schweiz-Österreich ist sehr gut. Hier das Präzise des Schweizers, dort das Gelassene des Tirolers. Ich liebte die Ferien bei den Grosseltern im Tirol, sauge die Stimmung dort auf. Was die Sache mit den Geschwistern angeht: Die beiden sind talentiert und ehrgeizig. Ich hatte glaub's einfach etwas mehr Biss, hart zu trainieren.»

René Wyler, 55, Leiter Sportschule Teufen

Mit 13 Jahren wechselte Ehammer in die Sportschule Appenzellerland in Teufen, seither wird er von den Brüdern René und Karl Wyler betreut, beides ehemalige Zehnkämpfer. René Wyler ist besonders für die Trainingsplanung, Karl Wyler für die Wettkampfbetreuung zuständig. Da sind aber viele weitere im Trainerteam, wie auch der Altstätter Weitspringer Yves Zellweger.

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Bild: zvg

René Wyler: «Mein Zeitaufwand für Simon ist explodiert. Was mich freut - schliesslich hängt das mit seinen Erfolgen zusammen. Vier bis fünf Stunden pro Woche setze ich für die Trainingsplanung ein, dazu kommen dann vier bis fünf Trainings. Im grossen Trainerteam tüfteln wir sehr viel, meine Aufgabe ist es, einen roten Faden in das Ganze zu bringen. Wir alle lieben das Projekt mit Simon, wir wachsen mit ihm. Auffallend ist der Mix zwischen Lockerheit und Ehrgeiz. Salopp gesagt: Er ist eine Wettkampfsau, sogar beim Dartspielen an der Sportschule will er immer gewinnen.»

(Einwurf Ehammer: «Was ich ja auch immer tue!»)

Wyler: «Er kann am Wettkampftag immer noch einen draufsetzen. Wobei: Im Dart gewinnt er nicht immer (lacht). Sein Ehrgeiz stand ihm früher manchmal im Weg. Wenn es nicht gut lief, kippte der Schalter: Dann ging gar nichts mehr. Er täubelte, ärgerte sich laut oder riss sich die Startnummer vom Leib. Ich sagte dann zu ihm: ?Du bist der Beste der Schweiz, jetzt schauen alle auf dich.? Manchmal ziehe ich den Vergleich mit Roger Federer: Er hatte als Junger auch diese Phase, war nicht der Ruhigste auf dem Platz, aber das Wilde war ja auch der Antrieb.

Stark ist, wie sich Simon mental keine Grenzen setzt. Wir mussten alle lernen, mit ihm auch so zu denken und nicht zu bremsen, wie es Trainer ja gerne auch mal machen, um Druck wegzunehmen.

Das Schöne ist, dass Simon mit den Leistungen und seiner Art den Nachwuchs antreibt. Da ist zum Beispiel der 18-jährige Andrin Huber, der auf seinen Spuren wandelt. Die Jungen verlieren Angst vor gewissen Dimensionen. Die Messlatte und das Selbstverständnis sind mit Simon automatisch höher, das hilft. Was er auch kann: die Jungen föppeln, sich dann aber wieder prima um sie kümmern.

Ich empfinde die Zusammenarbeit als sehr harmonisch. Ausser das mit dem Wochenrückblick ist etwas ärgerlich. Den müsste er am Samstag abgeben, schafft es aber meist erst am Sonntag - und auch erst, wenn ich ihn darauf aufmerksam mache.»

Was Ehammer dazu sagt: «Als ich nach Teufen kam, tat ich richtig den Knopf auf, würde ich sagen, sogar in der Schule. Ich freue mich einfach jeden Tag aufs Training, auch wenn es um halb sieben mit Krafteinheiten beginnt. Es gibt für mich keine besseren Mehrkampftrainer als die, die ich hier habe, sogar international gesehen. Nie wird mich aus sportlicher Sicht jemand besser kennen als sie. Wo es Auseinandersetzungen gibt? (überlegt) - ‹Dart›. In Sachen Wochenrückblick habe ich mich übrigens verbessert. Mir kommt jetzt meistens am Sonntag selber in den Sinn, dass ich ihn vergessen habe.

Ich kenne meinen Körper ja schon sehr gut - aber wenn ich mir hohe Ziele stecke und darüber spreche, dann ist das nicht nur Prognose und gute Selbsteinschätzung, sondern oft einfach auch der ‹Schnorri› in mir. Ich habe schon extrem unrealistisches angekündigt, das ich dann doch geschafft habe. Vielleicht, weil ich darüber geredet habe und immer mit diesem Gedanken trainiert habe. Ich sage mir diese Dinge jeden Tag. Und dann denke ich: Der ‹Schnorri› in mir hat auch sein Gutes.»

Tatjana Meklau, 23, Freundin

Wie könnte es anders sein: Ehammers Freundin ist Österreicherin. Und sie ist ebenfalls sportliches Multitalent und Rekordhalterin. Die Steierin hält den Landesrekord im Hammerwerfen, gehört gleichzeitig zum österreichischen Skicross-Team. Vor einem Jahr erreichte sie auf der Reiteralm im Weltcup auf Anhieb einen achten Weltcupplatz - brach sich aber kurz darauf Schien- und Wadenbein. Eine Verletzung, die bis heute nachwirkt. Fun Fact: Meklau hält den Handtaschenwurf-Weltrekord. Die beiden wohnen gemeinsam in Gais.

Tajana Meklau
Tajana MeklauBild: zvg

Tatjana Meklau: «Es ist nicht so, dass sich Simon mit den jüngsten Erfolgen verändert hätte. Er war ja schon sehr selbstbewusst, als ich ihn kennen gelernt habe. Oder, da muss ich schon sagen, ganz zu Beginn war ich mir nicht sicher, ob das eher Arroganz ist (lacht). Lange waren wir ja über Instagram befreundet - dann kam er mich besuchen vor zweieinhalb Jahren. Zuerst hab ich schon gedacht, mit dem kann ich mir nix vorstellen, weil er eben so arrogant...»

«...direkt und klar in der Art ist», unterbricht Ehammer und lacht.

«Nein, nein, er ist nicht arrogant, Gott sei Dank. Aber ja, er hat mir gezeigt, dass ich selber auch etwas selbstbewusster sein kann – weil: Es klappt ja. Wenn man ihn richtig kennen lernt, weiss man schon, dass das einfach gutes Selbstvertrauen ist. Er sagt, das will ich erreichen - und erreicht's. Das ist auch einfach gute Selbsteinschätzung. Was mich an ihm stört? Eigentlich nur eines: Wenn er den Müll nicht rausbringt.»

Beat Schluep, 63, Entdecker Ehammers

Der Sportlehrer und ehemalige Leiter Leichtathletik beim TV Herisau brachte Ehammer zur Leichtathletik.

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Bild: zvg

Beat Schluep: «2011 gewann Simon den Kantonalfinal des UBS-Kids-Cup in Teufen. Auch seine Geschwister standen auf dem Podest. Ich wusste, dass die Ehammers in Stein wohnen, wo ich selber einst zu Hause war. Also fragte ich, ob Simon nicht vom Fussball zur Leichtathletik wechseln will. Er tat es und blieb einige Jahre bei uns im TV Herisau, wir haben mit ihm viele Erfolge gefeiert. Ich kann mich erinnern, wie wir speziell für ihn einen neuen Stab anschafften für den Stabhochsprung, 1000 Franken etwa kostete das. Er sprang gleich Bestleistung und forderte den nächsthärteren Stab, um noch höher springen zu können. So schnell ging das vorwärts bei ihm. Natürlich tat es weh, als er uns in Richtung TV Teufen verliess. Aber da war er klar in der Sache - wenn er etwas im Kopf hat, setzt er es um. Dass ich ihn ?entdeckt? habe, ist schlicht auch Zufall. Ich hatte ja nicht aktiv nach einer Leichtathletikperle gesucht. Sondern einfach eine gefunden.» (aargauerzeitung.ch)

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