Eine Szene für die Ewigkeit. Remco Evenepoel hat seine Konkurrenten trotz einer Panne in der Schlussphase so weit hinter sich gelassen – über eine Minute –, dass er es sich erlauben kann, am Zielstrich anzuhalten, das Velo querzustellen, die Fäuste in den Himmel zu recken und dann auszurollen. Im Hintergrund der Eiffelturm.
Die Szene ist aus mehreren Gründen für die Ewigkeit. Seit Menschengedenken hat nie mehr ein Velo-Titan so stilvoll einen Sieg zelebriert wie der Belgier. Im vielleicht stimmungsvollsten Rennen der neueren Geschichte. Vorbei an fast allen Kulturdenkmälern von Paris. Über den Hügel Sacre Coeur, der nun für ein paar Stunden in einen «Mont Ventoux der Kultur» verwandelt wird und am Schluss unter dem Eiffelturm durch. Nichts mehr scheint den Franzosen heilig zu sein, wenn es darum geht, sich der Welt als erste Kulturnation der Erde zu präsentieren.
Ach, theatralischer geht nicht. La Grande Nation eben.
Beinahe schon hat die Welt vergessen, wie sehr sich Frankreich mit diesen Spielen identifiziert. Das Land ist politisch heillos zerstritten. Also hat Präsident Emmanuel Macron erklärt, während der Spiele dulde er keine politischen Streitereien. Und siehe: Frankreichs Innenpolitik hält den Atem an.
Im Zusammenhang mit diesem olympischen Radrennen gibt es noch etwas. Für die Kenner ist es eine Selbstverständlichkeit, die gar nicht mehr beachtet wird. Für den Zaungast, der sich nur hin und wieder auf der olympischen Bühne mit diesem Thema befasst, ist es immer wieder ein Wunder.
Ziemlich genau 273 Kilometer sind die jungen Männer geradelt. Wir wissen aus leidvoller Erfahrung im richtigen Leben, wie anstrengend Velofahren ohne Batterie sein kann. Selbst wenn es nur der kurze Weg in die Gartenbeiz ist. Wie sehr wir noch lange schnaufen und schwitzen.
Aber die Titanen der Landstrasse scheinen die Anstrengung nicht zu spüren. Weniger als eine Viertelstunde nach Zieldurchfahrt stehen sie den Chronistinnen und Chronisten Red und Antwort. Nicht ausser Atem. Nicht verschwitzt. Alle Zeichen einer Erschöpfung haben sich aufgelöst wie Morgennebel. Wer es nicht mit eigenen Augen einmal gesehen hat, kann es nicht glauben. Wie kann das sein?
Es ist die Maschine Mensch. Ein Wunderwerk der Ausdauer. Diese Maschine scheint ein wenig zu funktionieren wie ein … Motor.
Ein Triebwerk darf nicht zu heiss werden. Finetuning ist alles. Auch zwei Schweizer haben das Ziel erreicht. Stefan Küng (7.) und Marc Hirschi (17.). Auch auf sie trifft die Bezeichnung «Maschine Mensch» zu. Auch sie wirken nach der Zieldurchfahrt auf eine Art und Weise frisch, die für einen untrainierten Chronisten schon fast einer Beleidigung gleichkommt.
Beide sind keine Meister auf der olympischen Bühne. Stefan Küng ist immerhin mehrfach diplomierter Olympia-Held. In Paris gar ein doppelter: 8. Zeitfahren und 7. nun im Strassenrennen. Für die ersten acht Plätze gibt es ein Diplom. Aber es gibt bei den Spielen nur einen Medaillen-Spiegel. Noch nie seit 1896 ist es jemanden in den Sinn gekommen, einen Diplom-Spiegel zu erstellen. Hundert Diplome vermögen nicht eine Medaille zu ersetzen.
Boshafte Menschen sagen, nur bei Olympischen Spielen gebe es für Versager ein Diplom. Aber das ist wahrlich boshaft. Ja bösartig.
Im Vorfeld der Spiele hatte Stefan Küng erklärt, er werde ein Diplom nicht mehr an der Wand aufhängen. Er hatte ja bereits eines in Tokyo gewonnen (4.). Logisch also, dass er nun gleich als Erstes gefragt wird, was er mit seinen zwei Diplomen von 2024 machen werde. Er wird von der etwas respektlosen Frage sichtlich überrascht und sagt schliesslich, er wisse es noch nicht.
Der Thurgauer ist nicht nur körperlich (193 cm/83 kg) einer der Grossen der Landstrasse. Aber bei Olympischen Spielen fährt er dem Ruhm hinterher. Diesmal war es eine Darmgrippe, die ihn Kraft und Saft gekostet hatte. Noch am Mittwoch hatte er das Training wegen Unwohlsein abbrechen müssen.
Und bringt es auf den Punkt. Er habe alles gegeben.
So einfach, klar und wahr ist eigentlich nur ein Velorennen.
Marc Hirschi – mit 173 Zentimeter Grösse und 61 Kilo im Vergleich zu Küng fast ein Kobold – hatte nie etwas mit der Entscheidung zu tun. Er ist hinten im Feld eingeklemmt, als vorne die Post abgeht. Unzufrieden ist er trotzdem nicht. Und sagt das, was hier alle sagen: Der äussere Rahmen sei einfach unbeschreiblich gewesen.
Die beiden Schweizer sagen beide unabhängig voneinander, sie hätten bei einem Rennen noch nie so eine Stimmung erlebt. Entlang der Strecke waren so viele Menschen wie bei keinem anderen olympischen Wettkampf. Nur die Eröffnungsfeier dürften mehr Schaulustige gesehen haben. Immerhin: Stefan Küng und Marc Hirschi waren zwar im Ringen um den Sieg nicht mittendrin. Aber immerhin bei einem grandiosen Radrennen dabei. Ein olympischer Held ist Marc Hirschi nicht geworden. Aber bald werden wir wissen, ob er wenigstens ein Velo-Romantiker ist.
Er mag nicht verraten, wer sein neuer Arbeitgeber sein wird und sagt: «Nächste Woche wird es verkündet.» Marc Hirschi ist Berner. Wie Fabian Cancellara, der nun als Teamboss ein Velo-General geworden ist. Ein Berner Rennfahrer in einem von einem Berner kommandierten Team – mehr Veloromantik ist fast nicht möglich. Und in diesem Team könnte Marc Hirschi sehr, sehr viel lernen.
Beispielsweise, wie man Titel gewinnt. Fabian Cancellara war zweimal Olympiasieger (Zeitfahren 2008 und 2016 und Silber im Strassenrennen 2008) plus viermal Weltmeister im Zeitfahren.
Einen besseren Chef kann Marc Hirschi nie mehr bekommen.