Ariella Kaeslin gehörte als Kunstturnerin zur Weltklasse. Die Luzernerin wurde Europameisterin und gewann an ihrem Paradegerät Sprung eine WM-Medaille. 2011 trat sie 23-jährig zurück, doch eine Person des öffentlichen Lebens blieb sie.
Im «Magazin», das morgen erscheint, gewährt Kaeslin Einblicke in ihr Liebesleben. Sie sagt, sie habe genug davon, sich in der Öffentlichkeit zu verstecken und zu verstellen.
«Ich fand Frauen schon immer attraktiv», verriet Kaeslin dem Reporter Christof Gertsch, dem sich auch schon der homosexuelle Schwinger Curdin Orlik für sein Outing anvertraut hatte. «Doch wenn mir eine besonders gefiel, dachte ich, das liege daran, dass ich sein möchte wie sie. Vielleicht stimmte das auch – früher. Vor einiger Zeit merkte ich dann, dass sich etwas veränderte. Ich verknallte mich. Sie ähnelte mir, war haltlos, rastlos, sie schwankte vom einen Extrem ins andere. Aber sie war vergeben.»
Die 33-jährige Kaeslin wollte mehr über ihre Gefühle erfahren. Also habe sie ein Buch über lesbische Schweizer Sportlerinnen gelesen, sei diesen auf Instagram gefolgt, habe sich mit einigen zum Kaffee getroffen. «Es klingt blöd, aber es fühlte sich gut an, wie Heimkommen.»
Die frühere Kunstturnerin treibt nach wie vor viel Sport und wird dabei von anderen Sportlern erkannt. «Ich bin dann sofort gehemmt, auf der Loipe ebenso wie auf dem Bike-Trail. Ich beobachte mich von aussen und bemühe mich, nichts Verräterisches zu tun. Ich gebe meiner Freundin nicht mehr die Hand, umarme sie nicht, manchmal entferne ich mich sogar ein wenig von ihr.»
Ein Zustand, der immer mehr zur Zumutung wurde. Und deshalb das Outing, auch wenn Kaeslin sagt, es wäre ihr lieber, wenn es dieses gar nicht brauchen würde. Aber: «Ich möchte mich nicht verstecken. Ich möchte auch nicht noch einmal gefragt werden, ob ich wieder einen Freund habe, nur weil die Leute nicht wissen, dass ich doch jetzt eine Freundin habe. Würde ich einfach nicht darüber reden, käme mir das vor wie lügen.»
Lieber wäre ihr, wenn es diesen Artikel gar nicht bräuchte. Aber wie sollte das gehen? Ariella Kaeslin hat mir ihre Geschichte erzählt. Vielen Dank dafür! @tagi_magi @tagesanzeiger https://t.co/OX9K5HVx5J
— Christof Gertsch (@christofgertsch) April 9, 2021
«Klick» machte es, als sich die heute in Zürich lebende Innerschweizerin mit einer anderen lesbischen Sportlerin unterhielt. Diese habe zu ihr gesagt: «Es ist so lange Thema, bis es keines mehr ist.» Da sei ihr klar geworden, dass sie sich als öffentliche Person auch öffentlich outen müsse. «Sonst werde ich meine Liebe zu einer Frau nie in Freiheit leben können.» Allerdings habe sie auch Angst, fügt Kaeslin an. «Ich fürchte mich davor, dass die Leute denken, ich würde mich unnötig aufspielen.»
Als sie die Menschen in ihrem privaten Umfeld darüber informierte, dass sie eine Frau liebe, habe sich das nicht wie ein Coming-Out angefühlt: «Ich erzählte es einfach, als wäre es … nein, falsch! Es IST etwas Normales! Oje, ich verspreche mich auch immer noch.»
Mit Männern sei sie immer glücklich gewesen, sie habe ausnahmslos gute Beziehungen geführt, betont sie. Sie wolle sich nun auch nicht darauf festlegen, für immer ausschliesslich Frauen zu lieben. «Bin ich lesbisch? Bin ich bisexuell? Es fällt mir schwer, das zu definieren. Gleichzeitig belastet mich diese Uneindeutigkeit. Ich weiss, es ist doof, aber ich habe Angst davor, dass ich irgendwann vielleicht wieder mit einem Mann zusammenkomme und die Leute dann sagen: ‹Die hüpft hin und her, die kann sich nicht entscheiden, die hatte eine Phase, die ist bloss auf einen Trend aufgesprungen.›»
Ariella Kaeslin schildert im «Magazin» auch, dass ihr das Wissen helfe, nicht die einzige Frauen liebende Frau zu sein, der es so gehe wie ihr. Sie sei sich selber dann «weniger böse, wenn es wieder einmal geschieht, dass ich mich für meine Homosexualität schäme.»
Bei allem, was in ihrem Kopf hin und her gehe, komme sie stets an den gleichen Punkt. An jenen, an dem sie sich sage: «Ich kann stolz auf mich sein. Meinem Herzen zu folgen ist das Grösste und Beste, was ich machen kann. Es geht nicht darum, ein für alle Mal herauszufinden, wer ich bin. Ich kann mal so sein, mal so. Ich kann mich immer neu entdecken. Und alle anderen können das auch.» (ram)