Er ist mit 29 Jahren im besten Rennfahrer-Alter. Mit der idealen Mischung aus Talent, Erfahrung und Charisma. Dominique Aegerter hätte eigentlich noch vier, fünf gute Jahre vor sich und könnte auch heute noch auf Augenhöhe mit Tom Lühti fahren. Was ist passiert?
Dominique Aegerter ist nicht am fehlenden Geld, nicht an seinem Schweizer Pass und nicht an äusseren Umständen gescheitert, auf die er keinen Einfluss hatte. Er verdankt seine grosse Karriere seiner eigenwilligen Persönlichkeit. Aber das viel zu frühe vorläufige Ende eben auch.
Der Sohn eines Garagisten aus einem Dorf im Oberaargau an der Grenze zum Emmental schafft den Aufstieg in den GP-Zirkus. Allein das ist eine grandiose Leistung. Auf die GP-Bühne drängen Hunderte von Piloten aus Ländern von allen Kontinenten mit viel besseren Voraussetzungen.
Vier Jahre lang (von 2011 bis 2014 ) gehört Dominique Aegerter zu den besten 20 Motorradrennfahrern der Welt, kommt in der Moto2-Klasse, der zweitwichtigsten WM im Schlussklassement viermal in die «Top Ten» (2011 8., 2012 8., 2013 5., 2014 5.). Er fährt in dieser Zeit auf Augenhöhe mit Tom Lüthi. Seine Startnummer 77 wird Kult und im Bernbiet sind die Aufkleber («77») populär. In dieser Zeit holt er sechs Podestplätze und einen Sieg. Er ist einer der konstantesten Piloten und mit 34 Punkterängen (1. – 15.) in Serie gelingt ihm ein Rekord.
Dominique Aegerter könnte heute noch ein Aussenseiter im Moto2-Titelkampf sein. Mit der Aussicht auf drei, vier weitere, grosse Jahre. Aber eben – es ist anders gekommen.
Das selbstverschuldete, zu frühe Ende. Dreimal kommt Dominique Aegerter an eine entscheidende Weggabelung seiner Karriere. Einmal hat er sich für den richtigen Weg entschieden, zweimal ist er falsch abgebogen.
Im Herbst 2014 steht er nach dem Sieg beim GP von Deutschland auf den Höhepunkt seiner Karriere. Er bekommt ein Angebot eines spanischen MotoGP-Teams um in der Königsklasse 2015 eine Ducati zu fahren. Er lehnt ab. Im Rückblick mag diese Entscheidung falsch scheinen. Sie war aber richtig: er rechnete sich Chancen aus, 2015 in der Moto2-WM um den Titel zu fahren. Er hat die WM 2013 und 2014 bereits auf dem 5. Schlussrang beendet.
In diesem Herbst 2014 kommt es zu einem Ereignis, das sich rückblickend als Knick seiner Karriere erweist und auf das er keinen Einfluss hatte. Tom Lüthis Manager Daniel Epp löst sein Team auf und «transferier» seinen Piloten ins Team von Dominique Aegerter.
Was sich als «Dream Team» vermarkten lässt, ist für Dominique der Anfang vom Ende seiner Karriere. Mit der Präsenz seines grossen Vorbildes und Rivalen im eigenen Team kommt er nie zurecht. Auch wenn er und Tom Lüthi getrennte Strukturen unter einem Dach haben. Tom Lüthi ist der «Platzhirsch». Wieder einmal zeigt sich: es ist für zwei «Alphatiere» fast unmöglich, im gleichen Team glücklich zu sein. Im Frühjahr 2015 fährt Dominique Aegerter in Mugello zum letzten Mal aufs Podest und er erreicht 2015 und 2016 «nur» noch die WM-Schlussränge 17 und 12.
Die Schwierigkeiten mit Teamchef Fred Corminboeuf sind programmiert. Im Herbst verlässt Dominique Aegerter dieses Team. Es ist der schwerste Fehler seiner Karriere. Denn sein grosser Förderer Olivier Metraux finanziert dieses Team und der Westschweizer Unternehmer ist der Vater der GP-Karriere des Berners. Eine Mischung aus Trotz und Selbstüberschätzung führt dazu, dass sich Dominique Aegerter zutraut, auch ohne seinen Förderer weiterhin Karriere zu machen.
Er hat einen guten Namen und kommt ins Team der Gebrüder Jochen und Stefan Kiefer. Im Herbst 2017 die Tragödie: Stefan Kiefer stirbt beim GP von Malaysia im Alter von 51 Jahren an einem Herzversagen. Die wirtschaftliche Basis des Teams bröckelt. Erst nach monatelangem Bangen, einem Traum von russischen Investoren, der sich in Luft auflöst, geht es weiter.
Aber Dominique Aegerter, der in seinen besten Jahren über eine halbe Million brutto verdiente, muss nun mit seinen Sponsoren das Team mitfinanzieren. Er wird vom bezahlten zum zahlenden Fahrer – und wird es bleiben.
Im Sommer 2018 bekommt Dominique Aegerter noch einmal ein Angebot eines soliden, langfristig gut ausfinanzierten, technisch soliden Teams. Der Holländer Jarno Janssen, der den Schweizer seit Jahren kennt und sein Talent schätzt, bietet ihm einen Zweijahresvertrag, um die japanische Konstruktion NTS zu fahren. Auch er verlangt ein «Mitgift» in die Teamkasse und deshalb lehnt Dominique Aegerter ab. Noch will er kein Bezahlfahrer sein. Den Platz in diesem Team hat nun ab nächster Saison mit Jesko Raffin mit einem Zweijahresvertrag.
Beim Kiefer-Team hat Dominique Aegerter nach einem 12. und 17. WM-Schlussrang nach der Saison 2018 keine Zukunft mehr: Nur noch ein Fahrer wird eingesetzt und das muss ein Deutscher sein. Der Höhepunkt in den zwei Jahren mit dem Deutschen Team: der nachträglich wegen unerlaubten Ölzusätzen annullierte Sieg beim GP von San Marino 2017 in Misano – vor Tom Lüthi.
Am Ende bleibt für die Saison 2019 nur noch das Forward-Team, das die Marke MV Agusta wiederbelebt. Hier muss Dominique Aegerter noch mehr in die Teamkasse einbringen. Die Neuentwicklung ist nicht einfach zu fahren. Diese Saison holte er bisher bloss 15 Punkte und der 23. WM-Zwischenrang. Die schlechteste Bilanz seit dem Einstieg in die Moto2-WM 2011.
Bessere Resultate wären möglich gewesen. Aber 2019 hat Dominique Aegerter viel von seiner fahrerischen Klasse eingebüsst. Er lebt seriös, ist topfit und doch fehlt ihm inzwischen eine in diesem Geschäft unabdingbare Voraussetzung: er ist nicht dazu in der Lage, seine Energie auf das auf das Fahren an den GP-Wochenende zu konzentrieren und alles andere auszublenden.
Das spricht für seine Sensibilität, auch für sein freundliches Wesen, das es ihm schon immer schwer gemacht hat «nein» zu sagen. Aber er hat sich eben auch als «uncoachbar» erwiesen und zelebriert seine Karriere auf den sozialen Medien wie eine endlose «Seifenoper». Das mag heute für die Vermarktung wichtig sein und tatsächlich hat sich Dominique Aegerter so gut inszeniert, dass er lange Zeit mindestens so viel Medienpräsenz wie Tom Lüthi hatte. Das Problem: Er macht diese Inszenierung weitgehend selbst. Alle Versuche sind gescheitert, ihn dazu zu bringen, Smartphone und Computer vom ersten Trainingstag bis nach dem Rennen wegzulegen.
Wäre ihm die «totale» Konzentration gelungen wie den grossen Fahrern, hätte er noch viel mehr noch aus einem Talent machen können – und er wäre auch 2020 dabei.
Forward-Teambesitzer Giovanni Cuzari ist ein cleverer Geschäftsmann. Er hat so ziemlich den letzten Platz in der Moto2-WM 2020 anzubieten. Money Talks. Ein zweites Jahr bei MV Agusta hätte gut eine halbe Million gekostet. Mehr als Dominique Aegerter an Sponsorengeldern aufzubringen vermag. So viel Geld für eine sportlich aussichtslose Sache macht keinen Sinn mehr.
Er muss nicht wegen zu wenig Geld aufhören. Er muss aufhören, weil er sich in eine Situation manövriert hat, die so viel Geld kostet.
Gibt es eine Chance auf eine Rückkehr? Ja, aber nur eine kleine. Wichtig wird sein, weiterhin im Fahrerlager präsent zu sein. Das ist möglich, wenn er für ein Team die WM mit den elektrischen Maschinen bestreiten kann. Beispielsweise im Team von Tom Lüthi. Dann hat er eine gewisse Chance, im Laufe der Saison als Ersatzfahrer einspringen zu können. Aber wenn diese Chance kommt, muss Dominique Aegerter fahrerisch top sein.
Und das ist er schon seit zwei Jahren nicht mehr.